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Haupt, Höhepunkt, Gipfel aller Freuden soll die Stadt Jerusalem sein, meinte der Psalmist im alten Israel. Er drohte Gläubigen die schlimmsten Verkrüppelungen an, sollten sie dies vergessen. Bis heute prägt diese Wertung der Stadt auf dem Bergrücken zwischen Mittelmeer und Totem Meer das Denken, Beten und Sehnen des jüdischen Volkes. Bei jeder jüdischen Hochzeit zertritt der Bräutigam ein Glas und gelobt: „Wenn ich dich, Jerusalem, vergesse, verdorre meine Rechte…“ (Psalm 137,5f.).

Aber wie sieht das für Christen aus? Sagt das Neue Testament nicht von Abraham, dass er ein „Fremdling“ war „in dem verheißenen Lande“ und deshalb „wartete auf die Stadt, die einen festen Grund hat, deren Baumeister und Schöpfer Gott ist“ (Hebräer 11,9f.)? Müssen die Leute des Neuen Bundes nicht mit dem Schreiber der Hebräerbriefes (11,16) sagen: „Nun aber sehnen sie sich nach einem besseren Vaterland, nämlich dem himmlischen“? Zumal sich der Autor des Hebräerbriefes nicht an Heidenchristen, sondern ausdrücklich an „hebräische“ Jesus-Nachfolger richtete, wenn er schrieb: „Denn ihr seid nicht gekommen zu dem Berg, den man anrühren konnte und der mit Feuer brannte. Sondern ihr seid gekommen zu dem Berg Zion und zu der Stadt des lebendigen Gottes, dem himmlischen Jerusalem!“ (Hebräer 12,18.22).

Deshalb behaupten heute viele Christen, das irdische Jerusalem habe für Christen – abgesehen von einer historischen – keinerlei Bedeutung mehr.

Sie verweisen auf die Allegorie des Paulus: „Hagar bedeutet den Berg Sinai in Arabien und ist ein Gleichnis für das jetzige Jerusalem, das mit seinen Kindern in der Knechtschaft lebt. Aber das Jerusalem, das droben ist, das ist die Freie; das ist unsre Mutter“ (Galater 4,25f.). Die heute von Israelis und Arabern, Muslimen und Juden, so heiß umstrittene Stadt sei für Christus-Gläubige eine Stadt wie jede andere. Spätestens seit der Ausgießung des Heiligen Geistes an Pfingsten sei doch die Zeit gekommen, dass man „weder auf dem Berg Garizim noch in Jerusalem den Vater anbeten“ müsse, sondern „im Geist und in der Wahrheit“ (Johannes 4,21.24).

Das sind Fragen, Anfragen, denen sich jeder Jerusalem-Pilger, jeder Wallfahrer im Heiligen Land, jeder Israel-Freund stellen muss!

Andererseits – und das ist das Problem für die Kritiker der christlichen „Jerusalem-Euphorie“ – hat Jesus nicht vom himmlischen, sondern ganz offensichtlich vom irdischen Jerusalem gesagt, es sei „die Stadt des großen Königs“ (Matthäus 5,35). Bis ins letzte Buch des Neuen Testaments hinein wird das irdische Jerusalem als „die heilige“ (Matthäus 4,5; 27,53; Offenbarung 11,2) und „geliebte Stadt“ (Offenbarung 20,9) bezeichnet.

Ein Vergleich kann möglicherweise einen Ausweg aus dieser „Zwickmühle“ weisen.

Das Neue Testament beschreibt unseren Körper als „Leib der Sünde“ (Römer 6,6), der gezeichnet ist von Krankheit und Tod (Markus 5,29). Unser Körper ist „verweslich“ (1. Korinther 15,42.50.53.54), ein „sterblicher Leib“ (Römer 6,12; 8,11; 1. Korinther 15,53f.; 2. Korinther 4,11). Jesus benutzte das Wort „Leib“, wenn er sagte: „Wo das Aas ist, da sammeln sich auch die Geier“ (Lukas 17,37). Auch an anderen Stellen im Neuen Testament wird einfach vom „Leib“ gesprochen, wenn ganz offensichtlich ein „toter Körper“, ein „Leichnam“ gemeint ist (Johannes 19,31; Apostelgeschichte 9,40). Illusionslos beschrieb Paulus unseren irdischen Körper als „fern von dem Herrn“ (2. Korinther 5,6) und erklärte, dass „Fleisch und Blut das Reich Gottes nicht ererben können“ (1. Korinther 15,50).

Deshalb hatte Paulus „Lust, den Leib zu verlassen und daheim zu sein bei dem Herrn“ (2. Korinther 5,8). An anderer Stelle schrie er auf: „Ich elender Mensch! Wer wird mich erlösen von diesem todverfallenen Leibe?!“ (Römer 7,24). Paulus wusste, dass auch wir, „die wir den Geist als Erstlingsgabe haben, in uns selbst seufzen und uns nach der Kindschaft, der Erlösung unseres Leibes sehnen“ (Römer 8,23).

Im Laufe der Kirchengeschichte gab es deshalb immer wieder Menschen, die ihren irdischen Leib verachteten. Ihr ganzes Streben galt dem künftigen, himmlischen Auferstehungsleib, der im Neuen Testament als „unsterblich“ (1. Korinther 15,53f.), „unverweslich“ (1. Korinther 15,42.52-54), „in Herrlichkeit“ und „in Kraft“ (1. Korinther 15,43), das heißt, in der ungebrochenen Gegenwart Gottes, beschrieben wird.

Über dieser Aussicht vergaßen viele die Bedeutung des irdischen Leibes. Dabei hatte Jesus mehr als einmal irdische Körper geheilt und der Judasbrief berichtet gar, dass sich der Erzengel Michael mit dem Teufel „um den Leichnam des Mose“ stritt (Vers 9). Jesus hatte vor der Gefahr gewarnt, dass „dein ganzer Leib wird in die Hölle geworfen“ wird (Matthäus 5,29f.). Paulus ermahnte seine Leser: „Gebt nicht der Sünde eure Glieder hin als Waffen der Ungerechtigkeit“ (Römer 6,13). Vielmehr sollte der irdische Leib ein Opfer sein, „das lebendig, heilig und Gott wohlgefällig ist“ (Römer 12,1) und für seinen eigenen Körper hoffte der Apostel, „dass Christus verherrlicht werde an meinem Leibe, es sei durch Leben oder durch Tod“ (Philipper 1,20).

Christen in der antiken Weltstadt Korinth meinten anhand der biblischen Auferstehungshoffnung jede Libertinage rechtfertigen zu können: Wenn der irdische Körper sowieso vergänglich ist, warum dann die Mühe um eine Beherrschung dessen, was sowieso für Geier und Würmer bestimmt ist? Dem hielt der Apostel engagiert entgegen: „Wisst ihr nicht, dass euer Leib ein Tempel des heiligen Geistes ist, und dass ihr nicht euch selbst gehört? Ihr seid teuer erkauft, darum preist Gott mit eurem Leibe!“ (1. Korinther 6,19f.).

Paulus glaubte nicht etwa an eine in der griechischen Philosophie verankerte Unsterblichkeit der Seele. Er war davon überzeugt: „Wenn nun der Geist dessen, der Jesus von den Toten auferweckt hat, in euch wohnt, so wird er, der Christus von den Toten auferweckt hat, auch eure sterblichen Leiber lebendig machen durch seinen Geist, der in euch wohnt“ (Römer 8,10). Unser irdischer Körper hat Ewigkeitshoffnung! Deshalb erbat Paulus für die Christen in Thessalonich auch: „Er aber, der Gott des Friedens, heilige euch durch und durch und bewahre euren Geist samt Seele und Leib unversehrt, untadelig für die Ankunft unseres Herrn Jesus Christus“ (1. Thessalonicher 5,23).

Der Apostel war sich dessen bewusst, dass der Messias Jesus „durch den Tod seines sterblichen Leibes“ Menschen mit Gott versöhnt hat, um sie „heilig und untadelig und makellos vor sein Angesicht“ zu stellen (Kolosser 1,22). Und nicht nur der Leib von Jesus hat in der Theologie des Paulus eine Heilsbedeutung, sondern auch sein eigener sterblicher Körper. So konnte er sich freuen „in den Leiden, die ich für euch leide“, wie er der Gemeinde in Kolossä erklärte, „denn ich erstatte an meinem Fleisch, was an den Leiden Christi noch fehlt“ (Kolosser 1,24).

Wer heute über Kontinuität und Diskontinuität zwischen unserem jetzigen Körper und unserem Auferstehungsleib nachdenkt, kann fast nur spekulieren. Nur der Auferstehungsleib Jesu gibt uns einigen Aufschluss, denn immerhin soll unser „nichtiger Leib“ so verwandelt werden, „dass er gleich werde seinem verherrlichten Leibe“ (Philipper 3,21).

Entscheidend ist, dass das Grab von Jesus nach der Auferstehung leer war. Das bedeutet, dass nicht etwa seine Seele von einem irdischen Leib in eine neue Hülle schlüpfte, sondern der alte, sterbliche, zerschlagene, zu Tode gefolterte Körper auferweckt und verwandelt wurde. Der neue Körper von Jesus war sichtbar und – wenngleich zuweilen mit Schwierigkeiten – erkennbar. Der Auferstandene war nicht an Raum und Zeit gebunden, aber sein Leib war Materie. Der Unterschied zwischen „natürlichem“ und „geistlichem“ Leib kann nicht als Unterschied zwischen „materiell“ und „immateriell“ erklärt werden.

Jesus war nach seiner Auferstehung nicht etwa ein Geist. Seinen schockierten Jüngern rief er entgegen: „Was seid ihr so erschrocken? Seht meine Hände und meine Füße, ich bin’s selber. Fasst mich an und seht.“ Die Jünger konnten den auferstandenen Herrn betasten und er aß mit ihnen. Er gab sich ihnen zu erkennen, indem er ihnen an seinen Händen und Füßen die Folgen der erlittenen Folter zeigte (Lukas 24,38-43). Der Auferstehungsleib war ganz neu, ganz anders, aber irgendwie immer noch erkennbar gezeichnet davon, was er in der Zeit vor der Auferstehung erlebt hatte.

Ein für alle Mal brandmarkt Paulus jegliche Leibverachtung und Körperfeindlichkeit als Irrweg: „Es sind Gebote und Lehren von Menschen, die zwar einen Schein von Weisheit haben durch selbsterwählte Frömmigkeit und Demut und dadurch, dass sie den Leib nicht schonen; sie sind aber nichts wert und befriedigen nur das Fleisch“ (Kolosser 2,23).

Gilt für die Beziehung zwischen dem irdischen und dem himmlischen Jerusalem vielleicht Ähnliches?

Gewiss, das himmlische Jerusalem wird ganz neu sein. Es wird nicht von Menschen erbaut werden, sondern „von Gott aus dem Himmel herabkommen, bereitet wie eine geschmückte Braut für ihren Mann“ (Offenbarung 21,2). Das biblische Zeugnis ist eindeutig, dass das neue Jerusalem aus anderen Baumaterialien hergestellt sein wird, und dass es darin keinen Tempel und weder Sonne noch Mond gibt, „denn die Herrlichkeit Gottes erleuchtet sie, und ihre Leuchte ist das Lamm“ (Offenbarung 21,23).

Doch genau wie das alte Jerusalem bezeichnet der Seher Johannes das neue Jerusalem als „die heilige Stadt“ (Offenbarung 21,2.10; 22,19). Und die Heilige Stadt, die von Gott auf die neue Erde herniederkommt, ist nicht etwa nur ganz allgemein „die Stadt Gottes“, sondern erkennbar Jerusalem. Über den Ewigkeitsbestand anderer Städte kann man nur spekulieren. Jerusalem wird unter dem neuen Himmel auf der neuen Erde zu finden sein, mit Mauern und Toren und einem Marktplatz, ganz neu, ganz anders, ganz makellos – aber doch erkennbar als die Stadt Jerusalem!

Paulus hat darauf aufmerksam gemacht, dass Irdisches und Himmlisches untrennbar miteinander verbunden ist: „Wie wir getragen haben das Bild des irdischen, so werden wir auch tragen das Bild des himmlischen“ (1. Korinther 15,49); und auch, dass das Irdische dem Himmlischen notwendig vorausgehen muss, dass das Himmlische vom Irdischen abhängig ist: „Der geistliche Leib ist nicht der erste, sondern der natürliche; danach der geistliche“ (1. Korinther 15,46).

In der hebräischen Grammatik gibt es nicht nur einen Singular (Einzahl) und einen Plural (Mehrzahl), sondern auch noch einen Dual, eine „Zweizahl“. So heißen zum Beispiel (zwei) Augen „einajim“, (zwei) Ohren „osnajim“, (zwei) Hände „jadajim“ und (zwei) Füße „raglajim“. Rabbinische Lehrer verweisen darauf, dass die grammatikalische Form des hebräischen Namens Jerusalems, „Jeruschalajim“, ein Dual, eine Zweiheit, ist.

Wie der geistliche Leib einen natürlichen voraussetzt, setzt das himmlische Jerusalem ein irdisches voraus. Der Talmud (Traktat Ta’anit 5a) überliefert ein Wort von Rabbi Jochanan: „Der Heilige, gelobt sei Er, sagt: ‚Ich werde nicht in das himmlische Jerusalem einziehen, bis ich in das irdische Jerusalem einziehen kann‘“. Die Frage, ob es ein himmlisches Jerusalem gibt, beantwortet der Rabbi mit einem Zitat aus Psalm 122,3: „Selbstverständlich, denn es steht geschrieben, ‚Jerusalem ist gebaut als eine Stadt, die zusammengefügt ist‘“ aus einer irdischen und einer himmlischen Komponente. Das alte, heute sichtbare, oftmals so unbequeme, unfreie und unvollkommene Jerusalem ist untrennbar verbunden mit seinem himmlischen Pendant.

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By Published On: Juni 16, 20168,7 min read
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