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Auf dem Hintergrund der Beobachtung eines צִמְצוּם ה’/Zimzum HaSchem[1] stellt sich jetzt für unser Bemühen um das Verstehen der Heiligen Schrift die Frage: Entwickeln sich unsere Wissens-, Verstehens- und Erkenntnismöglichkeiten, immer weiter nach oben? Begreifen wir heute mehr, als die Patriarchen oder die Propheten des Alten Testaments oder die Ältesten und Rabbiner Israels oder die Apostel oder die Kirchenväter oder die Reformatoren – oder wissen wir weniger? Befinden wir uns in einer Aufwärtsentwicklung sofern es um unsere Beziehung zu Gott geht – oder in einer Abwärtsentwicklung? Sind wir, im Vergleich zu früheren Generationen, geistlich gewachsen, näher an unserem Vater im Himmel dran – oder degeneriert, weiter vom Schöpfer entfernt?

Die Vorstellung einer Aufwärtsentwicklung entspringt unserem menschlichen Bedürfnis, etwas Sinnvolles zu tun, besser zu werden, Erfolg zu haben. Das Denken unserer Zeit ist auf allen Ebenen vom Evolutionsgedanken durchdrungen. Jede Vorstellung einer Degeneration unseres Erkenntnisstandes oder gar unserer Gottesbeziehung wird entrüstet von der Hand gewiesen. Aber, ist der unerschütterliche Fortschrittsglaube, auch im Bereich der Theologie und auf der geistlichen Ebene, vielleicht nicht doch der Überrest einer heidnischen und damit unbiblischen Vorstellen in unserem Denken?

Gibt es eine Evolution der theologischen Erkenntnisse?

In der Bibel lernen wir, dass alles im Wachstum begriffen ist. Nichts bleibt, wie es ist. Alles verändert sich. Jeder Gärtner weiß, dass sein Garten jedes Jahr ein anderer Garten ist. Und jeder Mensch, der aufmerksam älter wird, erlebt am eigenen Leib, dass nicht alles automatisch besser wird, je länger das Wachstum andauert. Das gilt auch für die Gemeinschaft von Menschen, für die Gesellschaft, in der wir leben. Und in der Heiligen Schrift ist mit dem Älterwerden auch im Blick auf unsere Beziehung mit unserem Schöpfer eine Eintrübung, eine Verschlechterung, eine degenerative Entwicklung, eine „Devolution“ unübersehbar. Deshalb lässt Er sich auch am liebsten aus dem Munde der Unmündigen und Säuglinge loben.[2] Wer geistlich älter wird und wächst, merkt sehr schnell, dass seine Erlösungsbedürftigkeit zunimmt, nicht weniger wird.

Angefangen bei Adam, Kain und Henoch…

Die Bibel erzählt uns, dass der erste Mensch zu Beginn dieser Weltzeit noch ganz selbstverständlich mit seinem Schöpfer im Garten Eden spazieren gegangen ist (1. Mose 3,8-9). Ohne Erklärungen, geschweige denn ein Theologiestudium oder auch nur eine Bibelschulausbildung, war Kain klar, was der lebendige Gott dachte. Der Herr (ה’/J-h-w-h!) konnte Kain auf dessen Gedanken ansprechen und mit ihm über Geschehenes ins Gespräch kommen (1. Mose 4,4ff).

Dass Henoch ein Leben „mit dem [einen, wahren] Gott“ führen konnte, während der Rest der Welt den Schöpfer ignorierte oder gar gegen Ihn rebellierte, war fraglos eine Option. Zweifel daran, ob das überhaupt möglich wäre, zumal ohne irgendeinen Vermittler oder wenigstens ein Opfer; wie Henoch denn hätte wissen sollen, was „mit“ und was „gegen“ den lebendigen Gott oder auch „an Ihm vorbei“ gerichtet ist; ob Gott überhaupt an einer Gemeinschaft mit Henoch interessiert sei, sind keiner Erwähnung wert – und werden interessanterweise auch von heutigen Bibellesern praktisch nicht geäußert.

Alle unsere deutschen Übersetzungen lassen das kurzerhand als unwesentlich unter den Tisch fallen, aber: In 1. Mose 5,22 und 24 wird gleich zweimal ganz bewusst der Artikel vor dem Begriff „Gott“ verwendet. Wörtlich übersetzt steht dort also nicht nur „Henoch wandelte mit Gott“, sondern: „Henoch führte sein Leben mit dem Gott.“ Die auffallende Wiederholung dieser Formulierung in dem sonst so skizzenhaften Text unterstreicht, dass Henoch nicht nur an irgendein höheres Wesen geglaubt und sein Leben danach ausgerichtet hat. Henoch hatte tatsächlich eine lebendige Beziehung mit dem Einzigen, für den die Bezeichnung „Gott“ angemessen ist.

… über Noah, …

Wo Kain und Abel noch ganz selbstverständlich ihre Gaben zum himmlischen Vater gebracht hatten, machte sich Noah nach der Flut offensichtlich schon Gedanken darüber, dass als Grundlage für den Ausdruck seiner Verehrung für den Schöpfer ein Bauwerk nötig sein könnte, das die Erde dem Himmel näher bringt: ein Altar.[3] Irgendwie muss Noah den Eindruck gewonnen haben, dass eine Distanz zu überbrücken sei, von der seine Vorfahren noch keine Ahnung hatten. So wurde der Überlebende der Sintflut zum ersten Altarbauer der Menschheitsgeschichte (1. Mose 8,20).

Nach der Sintflut war der Hörerkreis des Wortes Gottes zwar ausdrücklich von Noah auf seine Söhne ausgeweitet worden (1. Mose 9,1). Aber die Söhne hörten die Stimme Gottes nur, wenn sie „bei“[4] ihrem Vater waren. Rein funktional war Noah also der „Prophet“ für seine Söhne, der „Offenbarungsmittler“ zwischen ihnen und Gott, auch wenn ein derartiger Begriff in diesem Zusammenhang noch nicht gebraucht wird. Und das, obwohl das von niemandem, schon gar nicht von Gott selbst, so gefordert worden wäre.

… Abraham, …

Abraham war dann der erste Mensch in der Geschichte, dem von Gott selbst ausdrücklich der Titel eines Propheten verliehen wurde (1. Mose 20,7). Zur Zeit Abrahams war das unmittelbare Gespräch zwischen dem Schöpfer und Seinen Geschöpfen offensichtlich schon eher die Ausnahmesituation und deshalb erwähnenswert.

Der Judasbrief sagt schon von Henoch, dass er „prophezeite“ (Judas 14). Das kann der neutestamentliche Autor aufgrund der Unmittelbarkeit der Gottesbeziehung in der Zeit vor der Sintflut[5] ebenso selbstverständlich tun, wie heute ein national-religiöser Rabbiner in Israel die Unterhaltung des Schöpfers mit Kain beobachtet und zu dem Schluss kommt: „Kain war ein Prophet.“ Dieser Titel für den Brudermörder Kain mag orthodoxen Juden genauso anstößig erscheinen, wie bibelgläubigen Christen. Angesichts der Tatsache, wie unbefangen und unvermittelt der lebendige Gott mit Kain redete, ist er deshalb aber nicht weniger korrekt.

… Mose…

Nach Mose gab es keinen Propheten mehr in Israel, „den der Herr erkannt (ידע/Jada‘) hätte von Angesicht zu Angesicht“ (5. Mose 34,10), mit dem Er redete „wie ein Mann mit seinem Freund“ (2. Mose 33,11). Das hebräische Wort „erkennen“ (ידע/Jada‘) beschreibt eine tiefgehende, intime Beziehung, aus der Frucht entsteht. Erstmals erscheint diese Wortwurzel in der Bibel in 1. Mose 4,1, wo erklärt wird: „Adam hatte Eva seine Frau erkannt.“

Über die Beziehung von Mose zum Herrn steht da nicht „zuvor und danach“ hat es keinen Menschen mehr gegeben, der so klar gesehen und so unmittelbar mit Gott kommuniziert hätte. Sondern: Ab dem Zeitpunkt, wo Mose gestorben war, gab es keinen Propheten mehr in Israel, mit dem der Herr eine so tiefgehende Beziehung gepflegt hätte, wie mit Mose. Das heißt im Klartext: Nach dem Tod des Mose ging es im Blick auf die Beziehung zwischen Gott und Menschen immer weiter abwärts.

… und die Propheten

Mit Samuel beginnt die Reihe der Schriftpropheten. Zu Beginn seiner Zeit steht die Feststellung: „Des Herrn Wort war teuer, selten. Es gab kaum noch Offenbarung“ (1. Samuel 3,1). Doch angefangen mit dem Reden des lebendigen Gottes zu dem jungen Priester im Heiligtum in Silo gibt es eine ganze Reihe von Menschen, die – wie etwa der König David (2. Samuel 23,2) – sagen konnten: „Der Geist des Herrn hat in mir geredet. Sein Wort ist auf meiner Zunge.“

Nach jüdischer Tradition[6] verabschiedete sich „der Geist der Prophetie“ mit den letzten Schriftpropheten Haggai, Sacharja und Maleachi. Nach ihnen wagte kein Verfasser heiliger Schriften mehr das autoritative כֹּה־אָמַר יְהוָה/Ko-Amar J-H-W-H (So spricht der Herr). Das schwergewichtige נְאֻם יְהוָה צְבָאֹות/Ne’um J-H-W-H Zeva’oth (prophetischer Ausspruch des Herrn Zebaoth) zieht den Vorhang zurück, öffnet die Augen für Realitäten und Zusammenhänge, die unser menschlicher Verstand nicht erschließen kann. Kein Schreiber des Neuen Testaments wagte es, seine Aussage auf diese Weise zu qualifizieren – außer wenn das von uns heute so genannte „Alte Testament“ zitiert wurde.

Unsere Erkenntnismöglichkeiten schwinden

Dass Gott sich immer weiter zurückzieht und damit die Erkenntnismöglichkeit für die Menschen abnimmt, ist auf ganz unterschiedlichen Ebenen und in ganz verschiedenen Bildern durch die gesamte Heilige Schrift hindurch nachvollziehbar.

So war, zum Beispiel, ursprünglich die gesamte Schöpfung als Ort der Begegnung zwischen dem Schöpfer und Seinen Geschöpfen gedacht gewesen. Dann hatte sich der Gott Israels ein Land, und in diesem Land einen Ort auserwählt, an dem Er wohnen und Seinem Volk begegnen wollte. Doch schon der Prophet Hesekiel (10-11) musste beobachten, wie sich die Herrlichkeit des Herrn aus diesem Ort zurückzog – und bis zum heutigen Tag ist sie dorthin nicht wieder in vergleichbarer Weise zurückgekehrt.

Das Neue Testament widerspricht dieser Beobachtung der jüdischen Schriftexperten in keiner Weise. Vielmehr stellt es – ganz im Übereinklang mit dem Propheten Hesekiel – eine Zeit in Aussicht, in der die Herrlichkeitsgegenwart des einen, wahren, lebendigen Gottes nach Jerusalem zurückkehren wird.[7]

Dem Rückzug Gottes aus der Schöpfung entspricht auch die Entwicklung der uns Menschen zur Verfügung stehenden Offenbarung. Zur Zeit des Mose begann der Herr, bestimmte Kernsätze seiner Offenbarung aufzuschreiben oder dann aufschreiben zu lassen. Zuvor war es möglich gewesen, dass der Vater im Himmel seinen Menschenkindern einfach etwas gesagt hatte – und sie hatten die Kapazitäten die Worte des Herrn aufzunehmen, zu speichern, im Leben umzusetzen und unverfälscht, präzise an ihre Kinder weiterzugeben. Das schriftliche Festhalten deutet auf eine Degeneration der Gedächtnisfähigkeiten – wie vielleicht jeder technischen Fortschritt auf ein Nachlassen der Fähigkeiten in der Menschheit weist.

Bibliotheken und Computer als Symptome einer „Devolution“

Wenn wir heute Bibliotheken haben, die nur noch mit Hilfe von Computern überschaubar sind, und uns in absehbarer Zeit künstliche Intelligenz beim Bibelstudium helfen muss, dann ist das kein Fortschritt, keine Evolution nach oben, sondern ein gruseliger Hinweis darauf, dass wir als Gesprächspartner Gottes immer unfähiger werden.

Jesus konnte seine Jünger noch aussenden, das Evangelium zu verkündigen, und gab ihnen dazu nicht mehr als das Alte Testament in die Hände. Wir haben heute nicht nur Schwierigkeiten das Neue Testament zu verstehen, sondern die Bibel überhaupt zu lesen, geschweige denn, dass wir dazu in der Lage wären, das Evangelium ohne das Neue Testament überzeugend zu verkündigen.

Biblische Propheten sahen voraus, das wir einer Zeit entgegengehen, in der die Menschen umherirren mit einem Hunger und Durst nach dem Wort Gottes. Aber sie werden nicht mehr in der Lage sein, dieses Bedürfnis zu stillen.[8] Ist die Sorge unbegründet, dass uns auch die modernsten technischen Errungenschaften davor nicht zu bewahren vermögen?

„Hilf uns zur Umkehr!“

Das jüdische Volk betet: „Mache uns umkehren, Herr, [bis] zu Dir. Dann werden wir [fähig sein] um[zu]kehren. Erneuere unsere Tage wie vor alters!“ Wenn diese Worte in den Synagogen nach der Thoralesung gesungen werden, bittet man zu allererst um das Geschenk umkehren zu dürfen, und zwar in der Beziehung zum Wort des lebendigen Gottes. Der Abschluss der Klagelieder (5,21) über die Zerstörung des Tempels in Jerusalem ist ein Schrei um Hilfe zu einer theologischen Neuorientierung.

In den letzten drei hebräischen Worten dieses Verses „חַדֵּשׁ יָמֵינוּ כְּקֶדֶם/Chadesch Jameinu KeKedem“ liegt ein Wortspiel verborgen. Sie sind schon richtig übersetzt mit „Erneure unsre Tage wie vor alters!“, wie das gemeinhin getan wird. Aber die Wortwurzel קדם/KaDaM beschreibt nicht nur etwas, was früher, in der guten, alten Zeit einmal war. Sie steht auch immer für etwas, worauf wir uns ausrichten, wohin wir uns wenden, worauf wir zuleben.

Deshalb blickt der Prophet Jeremia mit diesem Worten nicht nur wehmütig zurück und ersehnt die Wiederherstellung eines idealen davidischen Königreiches unter salomonischer Herrschaft. Er träumt nicht nur von einem Garten Eden. Tatsächlich hat er die neuen Himmel und die neue Erde im Blick, die der Prophet Jesaja beschreibt (Jesaja 65,17).

„Ja, aber wir haben doch Jesus…“,

…und vor allem den Heiligen Geist!“, höre ich jetzt so manchen Leser einwenden. Und das ist natürlich richtig! Und ich möchte das ganz persönlich unterstreichen, dass ich aus tiefstem Herzen dankbar dafür bin, was Jeschua, wie wir ihn auf Hebräisch nennen, für mich getan hat. Ohne Ihn wäre ich nicht, was ich bin. Meine Existenz, mein Leben ist ohne Jeschua, den Messias und Erlöser Israels, den Retter der Welt, überhaupt nicht denkbar. Aus tiefstem Herzen bekenne ich mit den Worten des Apostels Paulus (1. Timotheus 2,5-6a): „Einer ist Gott, und Einer ist Mittler zwischen Gott und Menschen, der Mensch Messias Jeschua, der sich selbst als Lösegeld gibt für alle.“

Und dann bin ich unendlich dankbar für die Gabe des Heiligen Geistes, für den Tröster, den uns der Vater gesandt hat, der uns lehrt, der uns erinnert an das, was Jeschua gesagt hat (Johannes 14,26). Es ist meine tägliche Bitte, dass ich offen bin für das Reden des Geistes; dass ich höre, was der Geist der Gemeinde sagt; und dass all mein Tun unter der Leitung des Geistes geschieht. In keiner Weise möchte ich den Geist dämpfen, auslöschen oder gar betrüben.[9]

Die Frage nach dem Vermittler

Einmal abgesehen davon, dass Noah ein Prophet und Offenbarungsvermittler zwischen Gott und seinen Söhnen war, und dass wir sehen, wie Abraham durch seine Fürbitte zwischen Abimelech und dem lebendigen Gott vermittelt (1. Mose 20), ist es erst Mose, der ausdrücklich eine Mittlerfunktion zwischen Gott und Menschen ausübt.

Mose nahm diese Aufgabe wahr, weil das Volk auf den Herzensschrei des himmlischen Vaters „Ich will in ihrer Mitte wohnen!“ nicht positiv eingegangen war. Und auch der „Prophet wie Mose“, der dem Volk versprochen wird (5. Mose 18,15-18), ist im ursprünglichen Kontext gesehen eine Antwort Gottes auf die Ablehnung des Volkes, die direkte, unmittelbare Beziehung mit Ihm auszuhalten.

Ursprünglich (כְּקֶדֶם/KeKedem! – Klagelieder 5,21) hatte sich der Schöpfer gewünscht als Vater mit den Geschöpfen, die „in Seinem Bild, Ihm ähnlich“ geschaffen sind, direkt und unmittelbar im Kontakt zu stehen. Deshalb ist Jeschua auch nicht das Ziel, sondern der Weg zum Vater. Es geht um diese „Erkenntnis-Beziehung“ mit dem Vater (Johannes 14,6-7) – und die ist offensichtlich seit Beginn dieser Weltzeit einer permanenten „Devolution“ unterworfen.

Was hat das für Folgen?

Wenn wir uns von der Illusion einer geistlichen Evolution verabschieden und eine Abwärtsentwicklung unserer Gottesbeziehung als angemessene Beobachtung akzeptieren, was macht das dann mit uns?

Zuerst einmal beeinflusst das ganz entscheidend unsere Einstellung gegenüber unseren Müttern und Vätern. Dabei geht es nicht nur um unsere leiblichen Eltern, sondern auch um unsere geistlichen Vorfahren. Wir stellen fest, dass wir nicht besser sind als unsere Väter (1. Könige 19,4). In mancher Hinsicht sind wir vielleicht sogar schlimmer (Jeremia 7,26; 16,12).

So manche Einstellung und Äußerung moderner Erweckungsbewegungen gegenüber alten Traditionen mag als Symptom geistlichen Hochmuts bloßgestellt werden. Ganz bestimmt aber wird unsere Haltung gegenüber neuen technischen Entwicklungen und der Erfindung immer neuer Krücken eine Korrektur hin zu mehr Realismus erfahren. Und vielleicht können wir die eigene Hilflosigkeit unbefangener betrachten und eingestehen.

Ein entscheidender Einschnitt wird unsere Beziehung als Nichtjuden zum jüdischen Volk erfahren. Das Volk Israel ist tatsächlich unserer älterer Bruder. Der mag sein Problem mit dem Vater haben und zornig auf uns sein, weil wir einen Grund zum Feiern haben.[10] Er mag „verflucht und von Christus getrennt sein“ – aber ihm gehört die „Thora-Gebung“.[11] Das jedenfalls ist die Aussage des Heidenapostels Paulus. Im Klartext sagt er an dieser Stelle: „Wenn Ihr Bibellesen lernen wollt, dann geht zu den Juden. Dort könnt Ihr das lernen!“ Wäre es möglich, dass wir uns Jahrtausende lang vom Schweinsfraß heidnischer Philosophien ernährt und diesen mit biblischen Aussagen zu einem untrennbaren Matsch christlicher Theologie vermischt haben?

Aber es geht nicht darum, dass Heidenchristen Juden werden. Der wichtigste und alles entscheidende Effekt der Erkenntnis, dass wir eine geistliche Devolution erleben, ist eine neue Hochachtung der Bibel als Heiliger Schrift. Jeschua konnte, wie gesagt, seine Jünger in ihre Weltmisson aussenden, mit nichts als dem „Alten Testament“ in Händen. So gewiss war er sich, dass die Schrift von ihm zeugt (Johannes 5,39). So sicher war er sich, dass alles erfüllt werden muss, was von ihm im „Tanach“ – das heißt: „im Gesetz des Mose und in den Propheten und Psalmen“ – geschrieben steht (Lukas 24,44-47). Deshalb können wir getrost Nachahmer des Paulus sein, der nichts(!) lehrte „als was die Propheten und Moses gesagt haben“ (Apostelgeschichte 26,22).

 

Fußnoten:

[1] Siehe dazu den vorhergehenden Artikel „Wenn Gott sich zurückzieht“ (https://gerloff.co.il/zimzum/) in dieser Reihe über eine biblische Hermeneutik.

[2] Vergleiche Psalm 8,3; Matthäus 21,15-16.

[3] Carl Friedrich Keil und Franz Delitzsch, The Pentateuch: Genesis, Exodus 1-11, Commentary on the Old Testament vol.1/1. Transl. by James Martin (Peabody, Mass/USA: Hendrickson, 1989), 150.

[4] In 1. Mose 9,8 springt das אִתֹּו/ito = „bei ihm“ regelrecht ins Auge.

[5] und vielleicht auch aufgrund der zwischentestamentlichen Henochtraditionen.

[6] Siehe im babylonischen Talmud die Traktate Joma 9b; Sanhedrin 11a; Sota 48b.

[7] Hesekiel 43,1-12; vergleiche auch Offenbarung 21,1-4.

[8] Amos 8,11-12; vergleiche Hesekiel 7,26.

[9] 1. Thessalonicher 5,19; Epheser 4,30.

[10] Vergleiche Lukas 15,11-32.

[11] Vergleiche dazu Römer 9,3-4, wo Paulus ein neues Wort erfindet (νομοθεσία/nomothesia), um die Begabung des „älteren Bruders“ fassen zu können. Ich habe es hier einmal mit „Thora-Gebung“ übersetzt. Die gemeinhin in deutschen Ausgaben übliche Übersetzung mit „Gesetz“ ist schlicht unzutreffend und steht so im Urtext auch nicht.

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By Published On: Mai 6, 202514,1 min read

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