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Wir holen ein Kinderbett für unsere Enkel ab, das ich im Internet gebraucht und deshalb kostengünstig erworben habe. Die Adresse ist in Kirjat Jearim, einem Ort in der Nähe von Jerusalem, in dem viele orthodoxe und ultra-orthodoxe Juden leben. Ich klingle. Die Tür öffnet sich und mehrere kleine Kinder schauen heraus. „Ist die Mama zuhause?“ frage ich.

Kurz darauf erscheint die Mutter der Familie in der Tür. Sie schiebt ein stabiles Holzbett in den Flur und leiht uns sogar einen Werkzeugkasten, um es für den Transport auseinanderzubauen.

Die Kinder bleiben neugierig in der Tür stehen. Eines von ihnen ist noch recht klein. „Warum gebt ihr das Bettchen weg? Du könntest doch noch hineinpassen“, wundere ich mich. „Ja, aber das Bettchen passt nicht rein“, antworten die Kinder prompt. – „Wo schlaft ihr dann?“ – „Auf Matratzen!“

Jüngsten Erhebungen zufolge ist die Geburtenrate bei ultraorthodoxen Frauen auf 6,1 Kinder gesunken. Menschen in Deutschland unterscheiden nicht zwischen orthodoxen und ultraorthodoxen Juden, werfen sie sozusagen in einen Topf. Aber innerhalb der sehr vielfältigen israelischen Gesellschaft gibt es viele Unterschiede. Wie unter Christen gibt es auch im Judentum eine große Anzahl von Gruppen, Strömungen und Religionsgemeinschaften.

Auf Hebräisch werden die ultraorthodoxen Juden „Charedim“ genannt. Dieser Begriff stammt aus dem 66. Kapitel des Propheten Jesaja, wo es heißt: „Hört das Wort des Herrn, ihr, die ihr vor seinem Wort zittert!“ Die „Charedim“ sind die „Zitternden“.

Äußerlich sind die Charedim an ihrer Kleidung erkennbar. Die Männer tragen einen schwarzen Anzug und ein weißes Hemd, auf dem Kopf einen Hut oder, am Schabbat, den berühmten „Streimel“, die Pelzmütze, die sie je nach Sitte aus Osteuropa mitgebracht haben. Die Frauen sind verpflichtet, sich züchtig zu kleiden und keine „Männerkleidung“ zu tragen. Neben dem Tragen von Röcken und Kleidern gelten für sie auch andere Regeln. So ist beispielsweise die Farbe Rot verboten, da sie zu viel Aufmerksamkeit erregt. Selbst in der größten Hitze tragen sie Strumpfhosen oder Strümpfe. Verheiratete Frauen haben immer eine Kopfbedeckung, zu der auch die sehr beliebten Perücken gehören. Eine ältere Frau mit zusammengebundenen grauen Haaren wird man unter ihnen nicht antreffen.

Die Charedim leben meist unter sich in ihren eigenen Gemeinschaften in bestimmten Stadtvierteln und Orten. In den letzten Jahren sind sie auch in kleinere Städte wie Beth Schemesch und sogar in Siedlungen in Judäa und Samaria gezogen.

Natürlich geht es bei den Regeln, nach denen sie leben, nicht nur um Kleidung. Die strikte Einhaltung des Sabbats ist sehr wichtig. Sie sind fest überzeugt, dass der Messias kommen wird, wenn alle Juden den biblischen Ruhetag einhalten. Von Zeit zu Zeit organisieren sie Demonstrationen und blockieren gemeinsam mit ihren zahlreichen Nachkommen jeden Alters am Freitagabend die Straßen in Jerusalem, die an ihre Wohnviertel grenzen. Dabei skandieren sie „Schabbes, Schabbes“. In ein solches Durcheinander zu geraten, ist sehr unangenehm, auch wenn die Polizei eingreift und die steckengebliebenen Autofahrer zu befreien sucht.

Der Umzug von Ultraorthodoxen an Orte, die traditionell mehr oder weniger säkular waren, stößt daher nicht auf Begeisterung. Es gibt Menschen, die deshalb ihre langjährige Heimat verlassen. Der Fairness halber sollte jedoch erwähnt werden, dass auch die Teilnehmer an großen linksgerichteten Demonstrationen Straßen blockieren und sogar Lagerfeuer auf der Autobahn anzünden – sehr zur Verzweiflung und zum Ärger vieler Autofahrer. Und die tun das nicht am Ruhetag, sondern gerade dann, wenn viele unterwegs sein müssen.

Israel ist ein demokratisches Land mit einer großen Meinungsfreiheit. Einmal setzt sich eine Richtung durch, ein anderes Mal wieder eine andere. Ultraorthodoxe Juden haben gelernt, sich in diesem Umfeld zurechtzufinden. Sie haben ihre eigenen politischen Parteien. Sie gehen zur Wahl und sie sind seit Jahren in der Regierung vertreten. Die Rabbiner sind für sie jedoch eine größere Autorität als das Staatsoberhaupt.

So wies der damals 93-jährige Rabbiner Chaim Kanievsky während der Covid-Pandemie seine Studenten an, sich nicht auf das Coronavirus testen zu lassen. Während der dritten Abriegelung stimmte er dann aber doch zu, die Talmudschulen für eine begrenzte Zeit zu schließen. Er selbst erkrankte an Covid 19 und erholte sich wieder Dank der aufopferungsvollen häuslichen Pflege durch seine eigenen Leute.

Es gibt zwei Hauptvorwürfe gegen die ultraorthodoxen Juden, die auch im Ausland zu hören sind. Der eine lautet, dass sie nicht arbeiten und auf Kosten anderer Menschen leben. Der andere, dass sie die Last des Armeedienstes nicht mit der gesamten israelischen Gesellschaft teilen.

Zum ersten Punkt muss man verstehen, dass das Studium der Thora und der religiösen Bücher in der ultraorthodoxen Gesellschaft zu den höchsten Werten zählt. Wenn einer die Thora zu seiner Kunst oder seinem Handwerk macht, gilt das als legitime Beschäftigung.

In der ultraorthodoxen Gesellschaft werden Heiratskandidaten durch Vermittlung miteinander bekannt gemacht. Talmud-Studenten sind die begehrtesten Ehepartner.

Fast alle junge ultraorthodoxe Frauen gehen arbeiten. Ein besonders guter Job ist für eine ältere Frau die Ehevermittlung, der „Schidduch“. Auch bei jungen Männern ist ein Aufwärtstrend bei der Beschäftigung im säkularen Bereich zu verzeichnen. Die gesamte ultraorthodoxe Gesellschaft hat sich in den letzten Jahren gewandelt, und junge Ultraorthodoxe sind auch an der Universität erfolgreich.

2015 war die Charedi-Konferenz zum Kennenlernen alleinstehender Berufstätiger die große Neuigkeit. Normalerweise gründen die Ultraorthodoxen sehr jung eine Familie. Die Kinder sind dann in Kinderkrippen und Kindergärten. Die älteren Geschwister kümmern sich um die jüngeren. Mathematik und Englisch, Kernfächer an den Schulen in Israel, werden in ultraorthodoxen Schulen nicht unterrichtet. Deshalb gibt es jetzt Versuche des Staates, dies zu ändern. Das Projekt „Ofek Chadash“ – „ein neuer Horizont“ verspricht denjenigen ultraorthodoxen Schulen finanzielle Unterstützung, die Englisch und Mathematik in ihr Kurrikulum aufnehmen.

Im Blick auf den Militärdienst ist festzustellen, dass auch ein großer Prozentsatz der säkularen Gesellschaft aus dem einen oder anderen Grund vom Militärdienst befreit ist – ganz abgesehen von den gut 20% arabischen Bürgern, die nicht der Wehrpflicht unterliegen, und von denen nur ein kleiner Teil die Möglichkeit eines alternativen Dienstes, etwa in sozialen Einrichtungen, wahrnimmt. Von den Arabern dienen vor allem Beduinen und Drusen aus Galiläa seit Generationen in der israelischen Armee und seit einiger Zeit auch eine kleine Zahl christlicher Araber.

Bevor wir uns mit den Argumenten für und gegen den Militärdienst der ultraorthodoxen Juden befassen, sollten wir uns in Erinnerung rufen, wie es überhaupt zu der Ausnahmeregelung für die Charedim gekommen ist. Als der Staat Israel 1948 gegründet wurde, gab es nur etwa 400 Talmudstudenten. Im Blick auf den Holocaust und die Tatsache, dass die religiösen Juden überdurchschnittlich von der Vernichtung des europäischen Judentums betroffen waren, erschien es sowohl der militärischen wie auch der politischen Führung des jüdischen Staates logisch, diese Studenten von der Wehrpflicht zu befreien. Trotzdem beteiligten sich viele von ihnen mutig an der Verteidigung in Jerusalem und an anderen Orten.

Im Laufe der Jahre ist die Zahl der Charedim dann schnell gewachsen. Sie heiraten sehr jung und nehmen Gottes erstes Gebot an die Menschheit, „Seid fruchtbar und mehret euch und füllet die Erde“, absolut ernst.

Kürzlich traf ich einen Freund auf der Post, der seinen Enkel auf dem Arm hatte. Dieser Großvater ist säkular, Vater von drei erwachsenen Söhnen. Ich fragte ihn, wie viele Enkel er denn jetzt schon habe, worauf er antwortete: „Ein Betrunkener zählt die Gläser nicht mehr!“ – um mir dann mit einem Lächeln zu erzählen, dass sein ältester Sohn, der sich für die ultraorthodoxe Lebensweise entschieden hat, elf Kinder hat.

Im Laufe der Jahre gab es auf der politischen Bühne immer wieder Bestrebungen, die Befreiung der Jeschiwa-Studenten von der Wehrpflicht anzusprechen. Mittlerweile gibt es etwa 63.000 ultraorthodoxe Talmudstudenten in Israel. Im Moment geht es nicht mehr um Gleichberechtigung und das Tragen der Last des Militärdienstes. Es geht darum, dass das Land in einem neuen Krieg um seine Existenz schlicht mehr Soldaten braucht.

Israel sieht sich im Kampf an sieben Fronten: 1. Im Gazastreifen und 2. In den palästinensischen Autonomiegebieten in Judäa und Samaria gegen die Hamas, den Islamischen Dschihad und andere Terrorgruppen. 3. Gegen die Hisbollah im Libanon. 4. Gegen die Huthis aus dem Jemen. Dann 5. gegen pro-iranische Milizen in Syrien und 6. Im Irak. Und schließlich 7. Gegen den Iran.

Ultraorthodoxe Rabbiner argumentieren gegen die Wehrpflicht, dass Gottes Frieden kommen und es keinen Krieg mehr geben wird, wenn das ganze Volk Israel die Thora studiert und Gottes Gebote befolgt. Sie sehen deshalb eine ernste Gefahr, wenn Jeschiwa-Studenten ihre Beschäftigung mit dem Talmud vernachlässigen – und andererseits Treue im Studium als echten Schutz für das jüdische Volk, als ein Mittel gegen die Vertreibung aus dem Land, wie es in 3. Mose 28,18 steht: „Denn das Land wird auch euch verstoßen, wenn ihr es verunreinigt, wie es das Volk verstoßen hat, das vor euch war.“ Die Entscheidung des Obersten Gerichts, auch Talmud-Studenten einziehen zu lassen, wird von einem Rabbiner als „Krieg gegen die Thora“ bezeichnet.

 

Im Gegensatz dazu sehen orthodoxe Juden, die in der Armee dienen, die Notwendigkeit, ihr Land auch im Kampf zu verteidigen, wie das im Buch Nehemia beim Wiederaufbau Jerusalems beschrieben wird: „Diejenigen, die die Mauern bauten, und die da Lasten trugen, arbeiteten so: Mit der einen Hand taten sie die Arbeit und mit der andern hielten sie die Waffe. Und ein jeder, der baute, hatte sein Schwert um die Lenden gegürtet und baute so…“ (Nehemia 4,11-12). Weiter bringen diese religiösen Zionisten das interessante Argument, dass es unter den zwölf Stämmen Israels nur einen Stamm gab, der sich um die geistlichen Dinge kümmern sollte.

Weiter befürchten die ultraorthodoxen Gegner der Wehrpflicht für ihre Jugendlichen, dass sie in der Armee korrumpiert und säkularisiert werden und nie wieder in den Schoß ihrer Gemeinschaft zurückkehren. Bereits existierende ultraorthodoxe Einheiten, wie etwa „Netzach Jehuda“, folgt allerdings strengen halachischen Regeln. Ihr Motto ist 5. Mose 23,15: „Denn der Herr, dein Gott, zieht mit dir inmitten deines Lagers, um dich zu erretten und deine Feinde vor dir dahinzugeben. Darum soll dein Lager heilig sein, dass nichts Schändliches unter dir gesehen werde und er sich von dir wende.“

So gibt es auf der anderen Seite auch Stimmen aus dem säkularen Teil der israelischen Gesellschaft, die befürchten, dass durch den Eintritt vieler Charedim in die Armee die religiösen Regeln in der gesamten Armee verschärft werden und ultraorthodoxe Soldaten tatsächlich mehr unter dem Kommando ihrer Rabbiner stehen, als der Armeeführung gehorchen werden. Ganz aktuell war jetzt am 2. Januar 2025 zu hören, dass zwei Kompanien, das heißt 180 Soldaten, mit dem Aufbau einer neuen ultraorthodoxen Brigade beginnen, die den Namen „Die Hasmonäer“ tragen wird.

Im Oktober wurde berichtet, dass der Generalstabschef Herzi Halevi im Südlibanon einem Reservisten einen „Messias“-Aufnäher von der Uniform gerissen habe. Halevi soll ihm dazu gesagt haben: „Hier werden nur militärische Symbole gezeigt“. Im zurückliegenden Jahr haben sich israelische Soldaten vermehrt nicht-militärische Aufnäher mit ganz unterschiedlichen Botschaften an die Uniform geheftet.

Gleichzeitig sind sich diejenigen, die derzeit aus dem Krieg zurückkehren, einig, dass sie im Einsatz eine tiefe Einheit erfahren, ganz unabhängig davon, aus welchem Bereich der Gesellschaft sie kommen. Sie trauen dann ihren Augen nicht, wenn sie die politischen Streitigkeiten in der israelischen Gesellschaft sehen.

„Maschiach, Maschiach, Maschiach, oj joi jojojojoj…“ ist eine bekannte jüdische Melodie. Angesichts der unvorstellbaren Grausamkeiten, von Betrug, Tod und Schmerz, wünschen sich Viele, dass der ersehnte Retter kommt und Frieden bringt. Unter den ultraorthodoxen Juden gibt es eine Gruppe, die den Staat Israel überhaupt nicht anerkennt und glaubt, dass erst der Messias bei seinem Kommen ein Reich für Israel errichten wird.

In den letzten Jahrzehnten taucht die gelbe Flagge der Lubawitscher Chassiden mit dem Bild der Königskrone und der Aufschrift „Maschiach“ – „der Messias“ immer wieder in der Öffentlichkeit auf. Sie wird im Internet für nur 100 Schekel angeboten, inklusive des Service der fachgerechten Anbringung. Diese Fahne will auf der Straße verkünden, dass der Messias kommt, und ein Anstoß dafür sein, über die Erlösung ins Gespräch zu kommen.

Ganz ähnliche Aufschrift „Melech haMachiach“ – „der König Messias“ erscheint auch auf Plakaten am Straßenrand, dann allerdings meist mit dem Bild eines bärtigen alten Mannes, des Lubawitscher Rebbe. Dabei handelt es sich um Rabbi Menachem Mendel Schneerson aus einer Dynastie chassidischer Rabbiner, die vielleicht berühmteste rabbinische Persönlichkeit der Neuzeit. Nach dem Holocaust widmete er sich der Wiederbelebung des Judentums in der ganzen Welt. Unter seinem Einfluss wurden Kindergärten, Schulen, jüdische Gemeindezentren und Jugendlager errichtet. Weiter Chabad-Zentren, in denen orthodoxe Familien als „Botschafter“ Juden und israelische Reisende in aller Welt betreuen, sie empfangen und versorgen. Vor kurzem erreichte uns die traurige Nachricht von der Ermordung von Rabbi Zvi Kogan, dem Leiter des Chabad-Zentrums in den Vereinigten Arabischen Emiraten.

Ich selbst habe ein solches Zentrum einmal mit einer israelischen Gruppe in Bangkok besucht und dort erlebt, wie das den Israelis ein Heimatgefühl vermittelt, wenn Pita und Hummus serviert werden. Dort wurde sogar eine neue Thorarolle durch die Hauptstadt Thailands in dieses Zentrum gefahren, wo dann die Besucher einen der letzten Buchstaben selbst schreiben durften. Israelis, die sonst kaum in die Synagoge gehen, standen dafür Schlange und genossen es.

Die ultraorthodoxe Organisation „Zaka“, deren Freiwillige nach Unfällen und Attentaten auch den kleinsten Überrest eines menschlichen Körpers einsammeln, um ihn dann würdevoll beizusetzen, hat große Verdienste in der israelischen Gesellschaft. Nach dem Massaker vom 7. Oktober stießen die Zaka-Mitarbeiter nicht selten an die Grenzen ihrer körperlichen und psychischen Kräfte. Sie hatten die schwierige Aufgabe, die Überreste der verstümmelten und verbrannten Leichen einzusammeln.

In der Debatte und bei den Bemühungen, die Rekrutierung der Ultraorthodoxen durch die Armee gesetzlich zu verankern, ist immer wieder die Rede davon, solche und ähnliche Organisationen, die teilweise schon seit Jahrzehnten aktiv sind, als Ersatzdienst anzuerkennen.

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By Published On: Januar 6, 202511,9 min read
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