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Dieser Artikel folgt auf den Artikel „Eine Einladung…“
„Du wirst deinen Glauben verlieren, wenn du Theologie studierst.“ – Das war die Warnung, die mich auf dem Weg vom Teenager zum Tweenager begleitete, nicht zur Ruhe kommen ließ – manchmal verfolgte.
Mitte der 1980er-Jahre bin ich dann mit großen Zweifeln und Vorbehalten ins Theologiestudium hineingegangen. Ich sah mich von meinem Vater im Himmel so geführt. Es war mir nicht gelungen, auszuweichen. Und dann sah ich keine Alternative, die biblischen Sprachen Hebräisch, Aramäisch und Griechisch auf einem anderen Wege wirklich gut zu lernen, als eben durch ein Universitätsstudium.
„Du wirst deinen Glauben verlieren!“
Im Laufe der Zeit verwandelte sich diese Warnung von wohlmeinenden Glaubensgeschwistern zu der Frage: Warum verlieren Theologiestudenten im Laufe ihres Studiums eigentlich den Glauben? Was passiert da? Was ist der Grund für einen so fundamentalen Sinneswandel bei Menschen, die ihr Studium doch gewählt haben, weil sie ein überdurchschnittlich großes Interesse an der Heiligen Schrift haben? Wie kommt es, dass es doch etwas gibt, das junge Menschen aus der Hand ihres Herrn reißen kann – allen anderslautenden Verheißungen (Johannes 10,27-29) zum Trotz?!
Eine Unmenge von Gesprächen, die Beobachtung von lieben Freunden und nicht zuletzt die Reflexion meiner eigenen Überlegungen, Krisen und Entwicklungen haben mich zu folgender These gebracht: In den meisten Fällen zerbricht nicht das Vertrauen in das Wort Gottes, sondern das Vertrauen in ein theologisches System, ein Gedankengebäude, eine menschliche Vorstellung oder philosophische Theorie über das Wort Gottes.
Als fatal erweist sich dann, wenn wir irgendein Denksystem mit der Bibel in eins setzen; gar nicht mehr in der Lage sind, das eine vom anderen zu unterscheiden, so dass letztendlich ein Vertrauenszerbruch in unsere Denk- oder Glaubensweise zum Vertrauenszerbruch in das Wort Gottes wird. Vielleicht muss ich das näher erklären und dafür etwas weiter ausholen.
Menschliches Denksystem versus Wort Gottes
Die Schöpfungsgeschichte lehrt uns, dass wir als Menschen mit dem Auftrag geschaffen wurden, uns die Schöpfung untertan zu machen, sie zu beherrschen, unser Umfeld – sogar die Fische des Meeres und die Vögel des Himmels, wie überhaupt jedes Lebewesen, das auf der Erde kriecht – unter Kontrolle zu haben (1. Mose 1,28). Deshalb ist völlig logisch, wenn wir uns instinktiv darum bemühen, Dinge zu „be-greifen“; das heißt, Situationen, die wir erleben, in den Griff zu bekommen. Kontrollverlust vermittelt kein Wohlgefühl. Das ist gut so und von Gott gegeben. Das ist ein Aspekt unserer Gott-Ähnlichkeit (1. Mose 1,26-27).
Eine Spannung entsteht nun dadurch, dass der Schöpfer uns nicht zur Autonomie berufen hat. Er wünscht sich und sucht in uns ein Gegenüber, das Seine Liebe erwidert. Aus dieser Beziehung mit Ihm heraus sollen wir Seine Vertreter in der Schöpfung zu sein. Als Gottes Mitarbeiter[1] sollen wir Seine Schöpfung bewahren, verwalten und auf Ihn zu gestalten.
Gott lädt ein auf einen Weg
Deshalb meldet sich der lebendige Gott zu Wort und lädt seine Geschöpfe ein zu einem Spaziergang. Das galt nicht nur für Adam und Eva, als sie Gott den Herrn hörten, wie er im Garten Eden ging, als der Tag kühl geworden war (1. Mose 3,8). Das war der Fall bei Abraham, der seine Heimat Ur in Chaldäa verlassen musste, um letztendlich in ein Land zu gehen, das der Herr ihm zeigen werde (1. Mose 12,1).
Das geschah mit den Nachkommen Abrahams. Gott ließ sie zu einer Volksgemeinschaft werden, indem Er sie nach Ägypten und dann von dort wieder ins Land Kanaan führte. Das ist das Grundproblem des jüdischen Volkes, dem der lebendige Gott bis zum heutigen Tag schlicht nicht zugesteht, einen Weg ohne Gott einzuschlagen. Das gilt bis hinein ins Neue Testament und in unsere Gegenwart, wenn Jesus Christus Menschen in seine Nachfolge ruft.
Wachstum als Herausforderung
Ein Wesenszug dieser Art von Gemeinschaft zwischen Gott und Mensch ist, dass sich alles ständig verändert – wie überhaupt Wachstum ein Grundprinzip der Schöpfung ist. Gemeinsam unterwegs zu sein ist dabei Ziel und Zweck der Übung, viel weniger, als das Ankommen. „Führe dein Leben Schritt für Schritt vor mir und sei [so] vollkommen!“ (1. Mose 17,1), hatte Gott dem Abraham erklärt.
Wir Menschen wollen dagegen etwas Festes in Händen halten. Wir wollen verstehen, begreifen, wissen, was Sache ist. Wenn jemand nicht in der Lage ist, in zwei bis drei Sätzen zu erklären, was er will, ist uns das genauso suspekt, wie die Einladung der Leute, die Jesus begegnet sind: „Komm und sieh!“ (Johannes 1,46) – anstatt kurz und klar zu sagen, um was es geht.
Deshalb hatten die Hebräer unmittelbar nach dem Auszug aus Ägypten das Anliegen Gottes, „ich will in ihrer Mitte wohnen“, damit beantwortet, dass sie Mose als ihren Vertreter auf den Berg Sinai schickten. Er solle sich anhören, was Gott auf dem Herzen habe. Ihnen selbst sei das ganze Spektakel viel zu heiß. Und Mose könne ihnen dann ja mitteilen, was Gott wolle (2. Mose 20,19).
Wenn Gott einem Menschen zu nahe kommt
Sobald Mose außer Sicht war, bastelten sich die entfesselten Sklaven dann etwas, das begreifbar, vermittelbar, erklärbar und vor allem berechenbar war. Der gute Wille das, was Mose dann von seiner Bergtour mitbringen würde, ins System mit einzubauen, war durchaus vorhanden. Deshalb wurde das Goldene Kalb ja auch nicht „Götze“ oder „Abgott“ genannt, sondern „die Götter, die dich aus Ägyptenland geführt haben“ (2. Mose 32,4).
Doch es war nie das Anliegen des Schöpfers gewesen, Seinen Menschen das Rohmaterial für eine Religion, Bruchstücke für eine reine biblische Lehre zu liefern. Sein Verlangen war immer und bleibt unverrückbar: „Ich will in ihrer Mitte wohnen“[2]. Deshalb steuert die gesamte Heilige Schrift auf die Vision des Johannes zu, der „einen neuen Himmel und eine neue Erde“ vor Augen hat, und damit „die Hütte Gottes bei den Menschen“, wo Er „bei ihnen wohnen [wird]. Sie werden Seine Völker sein. Er selbst, Gott bei ihnen wird ihr Gott sein“.[3]
Die Hütte Gottes bei den Menschen…
Durch die gesamte biblische Geschichte hindurch ist das Bemühen des Vaters im Himmel zu erkennen, auf Menschen zuzugehen, mit ihnen eine Beziehung aufzubauen. Alle Baumaßnahmen von Heiligtümern, die wir in der Heiligen Schrift erkennen können, sind Kommunikationsbemühungen des Vaters, den Weg zum Baum des Lebens und damit den Weg zum Vater nicht aus den Augen zu verlieren, zu bewahren, offenzuhalten (1. Mose 3,24).
Auf Seiten der Menschen ist gleichzeitig offensichtlich, dass ihnen eine Beziehung mit diesem unberechenbaren Gott vom Sinai, irgendwie unangenehm, ja unheimlich ist. Was Gott sagt, wird deshalb in der Regel schnell zur Lehre, zur Theologie, zum philosophischen System entschärft. Was akzeptiert werden will muss ausgewogen sein. Gute, beeindruckende, entscheidende Erfahrungen werden festgehalten und zur Grundlage von Verhaltensmustern. Gegenstände, die von Gott zur Rettung in bestimmten Situationen benutzt wurden, wie etwa die eherne Schlange (4. Mose 21,4-9), werden verehrungswürdige Gegenstände, Reliquien. Was begreifbar ist, wird verehrt oder durch Magie beschworen. Was sich dem Fassungsvermögen von uns Menschen entzieht, wird vermieden, umgangen, geleugnet. Das ist Religion.
…und unsere fromme, religiöse Flucht vor Ihm
Vielleicht ist es ja Gottes Gnade, wenn menschliche Konstrukte, Konzepte, Denksysteme, biblische Lehren zerbrechen – und sei’s durch ein Theologiestudium? Könnte es sein, dass so mancher liberale Theologieprofessor die Funktion eines Königs Hiskia hat?
Hiskia zerschlug die eherne Schlange, weil sie zum Objekt eines Götzendienstes geworden war (2. Könige 18,4). Dabei war sie tatsächlich von Mose auf den ausdrücklichen Befehl des Herrn gebastelt worden (4. Mose 21,8). Sie hatte tatsächlich vielen Israeliten während der Wüstenwanderung das Leben gerettet. Und ja, Jesus selbst hat die eherne Schlange als einen Hinweis auf das Kreuz gesehen, an dem der Sohn des Menschen erhöht werden musste (Johannes 3,14-15).
Könnte es sein, dass manche dogmatische Rechtgläubigkeit aus Gottes Sicht nichts anderes ist, als der Kult um eine verstaubte Reliquie?
Jeder hat Bilder im Kopf
Mir ist klar, dass es niemanden gibt, der kein System im Kopf hat, wenn er die Bibel aufschlägt. Keiner hat keine Brille auf, wenn er oder sie dem biblischen Text begegnet. Jeder assoziiert Vorstellungen und Bilder, wenn er oder sie bestimmte Worte hört, bestimmte Szenen vor Augen gestellt bekommt.
Wichtig wäre mir, dass wir uns darüber grundsätzlich im Klaren sind – und daran arbeiten, zu erkennen, was das konkret bedeutet. Dass wir darüber diskutieren, welche Konsequenzen unsere Denksysteme, die wir nur zu oft für selbstverständlich nehmen, unsere kulturelle Prägungen und die Überlieferungen nach sich ziehen, die uns unsere Väter mit auf den Weg gegeben haben.
Wenn „Solus Christus“ zur Irrlehre wird…
Ich bin, um ein Beispiel zu nennen, sehr stark vom lutherischen Pietismus geprägt, in dem die vier „Soli“ zentral sind: Sola scriptura. Sola gratia. Sola fide. Solus Christus – Allein die Schrift. Allein aus Gnade. Allein durch Glauben. Allein Christus. Diese Grundsätze haben mein Denken, mein Bibellesen und mein Leben geprägt. Und dafür bin ich sehr dankbar!
Auf dem Weg, den der Herr mich dann geführt hat, musste ich allerdings feststellen, dass diese mir so lieb gewordenen Kernstücke meines persönlichen Glaubens nur zu schnell zur Irrlehre werden können. Das geschieht zum Beispiel, wenn ich den Begriff „Christus“ mit Bedeutungen fülle, die es mir ermöglichen, Jeschua, den Messias Israels, losgelöst von Seinem Volk zu sehen, zu verstehen und zu verehren.
Wer Jesus Christus als seinen persönlichen Erlöser sieht, aber nicht versteht, dass das jüdische Volk für Jesus-Nachfolger ein Bezugspunkt sein muss, muss sich den Verdacht gefallen lassen, dass er einem Christus-Phantom nachjagt, das mit dem Messias Israels, der uns in der Bibel offenbart wird, nicht mehr allzu viel gemeinsam hat. „Solus Christus“ losgelöst aus dem Umfeld, das der lebendige Gott mit viel Sorgfalt über Jahrtausende hinweg geformt hat, um dann Seinen Sohn genau da hineinzusetzen, wird zur Irrlehre.
…genau wie der Islam
Keiner von uns ist dagegen gefeit, denselben Weg zu gehen, den die Nachfolger des Propheten Mohammed gegangen sind. Zweifellos verehren sie den Schöpfer des Himmels und der Erde, den allein wahren Gott, der sich dem Abraham offenbart hat. Diesen guten Willen kann man bis heute keinem Muslim absprechen, der es ernst nimmt mit seiner Religion.
Der Islam hat die Aussagen der Bibel über den Vater im Himmel dann allerdings so sehr verzerrt, dass im Koran und den Hadithen kaum noch etwas von der Selbstoffenbarung des Gottes Israels zu erkennen ist. Auf jeden Fall bleibt kein Vater im Himmel mehr, denn Allah hat keinen Sohn[4].
Rechtgläubigkeit als Sünde
Denksysteme, Lehrgebäude und Traditionen können sehr hilfreich zum Verstehen grundlegender Wahrheiten sein. Problematisch wird es, wenn wir nicht mehr in der Lage sind, sie vom biblischen Wort als menschliche Erklärungsversuche zu unterscheiden. Rechtgläubigkeit schießt am Ziel vorbei – das heißt, biblisch gesprochen wird sie zur Sünde! –, wenn unsere Überlieferungen dazu dienen, das Wort des einen, wahren, lebendigen Gottes außer Kraft zu setzen.[5] Orthodoxie ist Sünde, wenn sie auch nur Teile der Aussagen der Bibel ignoriert.
Eine Denkweise, ein System verrät sich übrigens oft durch die Worte, die wir verwenden. Diese Beobachtung ist der Grund für mein persönliches Misstrauen gegenüber allen Begrifflichkeiten, die von außen, aus einer menschlichen Philosophie oder Denkweise an die Bibel herangetragen werden, um Dogmen zu begründen – während man tatsächlich die Bibel dazu missbraucht, menschliche Vorstellungen und Maßstäbe zu untermauern.
Was bleibt unter dem Strich?
Nein, ich rede einem Relativismus der Postmoderne nicht das Wort, in dem die Beliebigkeit die Position Gottes einnimmt und jeder nach eigener Fason glücklich werden soll. Wenn Nachfolge und Beziehung mit dem einen, wahren, lebendigen Gott mehr sind als leere, romantische Floskeln, dann sind Verbindlichkeit, Eindeutigkeit und Zuverlässigkeit untrennbar von einer echten Glaubensbeziehung.
Ja, ich kratze mit diesen Gedanken definitiv am Glanz, an der Glorie und am Thron der Königin unter den theologischen Disziplinen, der systematischen Theologie. Aber ist der Verehrung dieser Königin nicht letztendlich zu verdanken, dass die christliche Gemeinschaft heute nur so strotzt vor Rechtgläubigen – während es gleichzeitig praktisch niemanden mehr gibt, der das Wort Gottes in seinen ursprünglichen Sprachen lesen kann – geschweige denn zu verstehen vermag.
Nein, ich entschuldige mich nicht dafür, wenn Menschen nach einer Bibelarbeit zu mir kommen und bekennen: „Jetzt bin ich aber völlig verwirrt…“ – wenn das bedeutet, dass Traditionen anfangen Risse zu zeigen, die dazu gedient haben (und sei es indirekt!), das Wort des Vaters im Himmel zu verzerren, zu zersetzen oder gar seiner Kraft zu berauben.
Fußnoten:
[1] Siehe dazu nicht nur den Schöpfungsbericht, sonder nauch 1. Korinther 3,9 im Kontext.
[2] Zum Beispiel in 2. Mose 25,8; 29,45-46; 4. Mose 35,34 oder Hesekiel 43,7+9 und Sacharja 2,14+15 – wie überhaupt den Gebrauch der hebräischen Wortwurzel שכן/shachan.
[3] Das griechische Wort, das in Offenbarung 21,3 mit „Hütte“ übersetzt wird, ἡ σκηνὴ/he skene, stammt aus dem Hebräischen. Es trägt den Wortstamm שכן/schachan, „wohnen“, noch erkennbar in sich. Davon abgeleitet beschreibt der Begriff שכינה/Schechinah, der nur im rabbinischen Hebräisch vorkommt, dann auch die Herrlichkeitsgegenwart des einen, wahren, lebendigen Gottes.
[4] Suren 6,101; 17,111; 19,35; 23,91; 112,3; vergleiche weiterhin die Suren 2,116; 10,68; 18,4; 19,88-92; 37,152.
[5] Matthäus 15,3.6; Markus 7,8-9.13.
Lieber Johannes Gerloff, danke für ihre Gedanken, die in vielem auch mir aus dem Herzen sprechen. So tut es mir z.B. weh, wenn fast alle Christen die Bibel unter der Vorstellung einer “unsterblichen Seele” lesen, beeinflusst durch griechische Philosophie. Das Wort Gottes spricht von Auferstehung, was etwas völlig anderes ist. Auch nach der Dreieinigkeitslehre suche ich vergeblich in der Schrift. Ach wenn man doch das Wort Gottes einfach stehen ließe, auch wenn wir heute manches noch nicht endgültig verstehen können!
So guat!!!
Lieber Gerloff, Schalom. Vielleicht erinnerst Du dich an mich, wir haben uns bei den Pro-Israel-Konferenzen in Deutschland getroffen. Ich finde in Deinem schreiben etwas worüber ich auch nachgedacht habe. Deshalb sende ich Dir, übersetzt von Deepl, einen Text von mir. Zu dem Thema, das Du vorgeschlagen hast, hätte ich nach meiner Erfahrung von mehr als 60 Jahren Glauben an Christus viel zu sagen. Vielleicht könnten wir (wenn Du willst und wenn der Herr es will) darüber noch einmal schriftlich besprechen.
Möge der Herr Dich in Deinem Dienst für Ihn segnen. Schalom Marcello Cicchese
https://www.ilvangelo-israele.it
Aber wozu ist Israel da?
Dieser Text wurde als Vorwort für eine Konferenz mit dem Titel “Gott wird bei den Menschen wohnen” vorgelegt. Er erhebt nicht den Anspruch, eine erschöpfende Darstellung der Stellung Israels im biblischen Erlösungsplan zu sein; er ist keine Lösung für das “Israel-Problem”, sondern soll ein Versuch sein, die Art und Weise, wie das Problem gestellt wird, biblischer zu gestalten.
Nach einer Predigt in einer evangelischen Kirche stellte mir ein Bruder während eines gemeinschaftlichen Mittagessens, als wir am Tisch saßen und uns angeregt unterhielten, unverblümt die Frage: “Aber warum wollte Gott ein bestimmtes Volk erwählen?” Ich blieb ein wenig nachdenklich und verschob schließlich meine Antwort. Ich wusste nicht, wo ich anfangen sollte, und vor allem wusste ich nicht, wann ich fertig werden könnte. Es fehlte mir nicht an Argumenten, sondern nur daran, dass man etwas weiter zurückgehen müsste, zumindest ab Kapitel 12 der Genesis, und nicht aufhören sollte, bevor man bei Kapitel 22 der Offenbarung angelangt ist.
Ich habe danach oft darüber nachgedacht. Der Bruder hatte nämlich klar und direkt eine Frage gestellt, die sich wahrscheinlich viele andere nicht einmal zu stellen wagten.
In bestimmten evangelikalen Kreisen ist es normal, dass jemand diese einfache Frage stellt, denn diejenigen, die sich an die Gemeinschaft wenden, erhalten eine Botschaft, die in etwa so lautet “Du bist ein Sünder wie ich und wie alle Menschen; wenn du in diesem Zustand stirbst, bist du verdammt und gehst auf ewig zum Teufel; wenn du hingegen umkehrst und an Jesus als deinen persönlichen Retter glaubst, bist du gerettet und gehst auf ewig zu Gott; wenn du die Botschaft der Rettung annimmst und dich bekehrst, musst du, solange du auf der Erde bleibst, versuchen, dich gut zu verhalten und anderen die Möglichkeit der Rettung zu verkünden“.
Dass ein Ungläubiger zu Beginn seines Interesses eine solche Botschaft erhält, ist in Ordnung, denn sie entspricht tatsächlich dem, was die Bibel sagt. Probleme entstehen, wenn die Lehre im Wesentlichen so bleibt und sich nur geringfügig vom ursprünglichen Kern entfernt.
Und hier ist nun die einfache Frage, die einige stellen mögen: Was hat Israel damit zu tun? Wenn das Kommen Jesu auf die Erde, sein Tod und seine Auferstehung nur dazu dienen, dir und mir und allen anderen Gläubigen eine Chance zu geben, den Flammen der Hölle zu entkommen, warum musste dann dieses “halsstarrige Volk” ins Spiel gebracht werden, das Gott und der Menschheit mit all den Rebellionen, Kriegen und dem Gemetzel, das seine Geschichte seit Jahrhunderten prägt, eine Menge Ärger bereitet hat? Warum nicht alles mit dem Weihnachtsabend beginnen, so süß, so poetisch? Warum halten wir uns nicht an das so genannte “Apostolische Symbol”, das alle Christen zusammenhalten sollte: “Ich glaube an Gott, den allmächtigen Vater … und an Jesus Christus, seinen eingeborenen Sohn, der vom Heiligen Geist empfangen und von der Jungfrau Maria geboren wurde, usw.”. Hier gibt es kein Volk. Und wenn es einmal eines gab, wäre es besser, es zu vergessen.
Religiöses Heidentum
Die Essenz jeder heidnischen Religion lässt sich wie folgt zusammenfassen. Die Menschen leben auf der Erde unter den prüfenden Blicken der Gottheit. Wenn sie sich gut verhalten, erhalten sie während ihres irdischen Lebens Hilfe und Unterstützung, und am Ende, wenn sie die Prüfung bestehen, werden sie von der Gottheit in den Himmel aufgenommen. Wenn sie sich hingegen schlecht benehmen, werden sie während ihres irdischen Lebens gezüchtigt und korrigiert, und wenn sie die Prüfung nicht bestehen, werden sie schließlich in die Hölle geworfen, um mit dem Teufel zusammen zu sein.
Die evangelikale Verkündigung weicht sicherlich von diesem Muster ab, aber inwiefern? Wenn es um andere Religionen als das Christentum oder das Judentum geht, liegt der Unterschied vor allem in der Gottheit: Es ist ein anderer Gott, also ein Götze. Bei den Juden oder den selbsternannten Christen hingegen wird vor allem der Unterschied zwischen Werken und Gnade betont. Man kann nicht gerettet werden, indem man ein Gesetz, sei es das mosaische oder das christliche, strikt befolgt, sondern nur aus Gnade durch den Glauben an Jesus Christus, “der für unsere Vergehen gegeben und zu unserer Rechtfertigung auferweckt wurde” (Römer 4,25).
All das ist wahr, aber ist das alles? Wenn ja, bliebe die Frage: “Aber wozu ist Israel da?”
Wenn man sich veranlasst sieht, diese Frage zu stellen, und sei es auch in einer eher “theologischen” Form, dann bedeutet das nicht nur, dass man unklare Vorstellungen von einer speziellen Lehre hat, die nicht zum Grundwissen eines Christen gehört, sondern auch, dass man etwas Wesentliches über das Wesen und das Wirken des Gottes nicht verstanden hat, an den man für sein persönliches Heil zu glauben behauptet. Etwas für uninteressant zu halten, an dem Gott immer interessiert war und leidenschaftlich weiter interessiert ist, setzt denjenigen, der diese Überlegungen anstellt, der Frage aus: An welchen Gott hast du denn geglaubt?
Wenn man die Bibel sorgfältig liest, und zwar die ganze Bibel und nicht nur sorgfältig ausgewählte Teile davon, könnte man entdecken, dass der wesentliche Unterschied zwischen der christlichen Botschaft und den heidnischen Religionen nicht in den Bedingungen liegt, die die einzelnen Seelen durchlaufen müssen, um von der Erde in den Himmel aufzusteigen.
Es gibt unzählige Witze darüber, dass die Seelen nach dem Tod die Erde verlassen und in den Himmel aufsteigen, wo sie einen heiligen Petrus vorfinden, der, nachdem er sich vergewissert hat, dass sie eintreten können, bestimmt, welcher Platz ihnen zugewiesen werden soll. Viele meinen, dass abgesehen von dem burlesken Aspekt der Wölkchen, auf denen die Seelen der Guten bleiben werden, ein Körnchen Wahrheit in all dem steckt: Die Guten werden die Erde nach und nach verlassen und in den Himmel aufsteigen, um ewig bei Gott zu bleiben. Die biblische Realität ist jedoch eine andere.
Die Botschaft der Bibel
“Und ich sah einen neuen Himmel und eine neue Erde; denn der erste Himmel und die erste Erde waren vergangen, und das Meer war nicht mehr. Und ich, Johannes, sah die heilige Stadt, das neue Jerusalem, von Gott aus dem Himmel herabkommen, bereit wie eine geschmückte Braut für ihren Mann. Und ich hörte eine große Stimme aus dem Himmel, die sprach: “Siehe, das ist die Hütte Gottes bei den Menschen! Und er wird bei ihnen wohnen, und sie werden sein Volk sein, und Gott selbst wird bei ihnen sein und ihr Gott sein”. (Offenbarung 21:1-3)
Im Neuen Testament kommt die Übersetzung “Stiftshütte” nur im Hebräerbrief und in der Offenbarung vor, weil dort auf das Alte Testament Bezug genommen wird. In allen anderen Fällen wird der Begriff im Italienischen mit “Zelt” übersetzt, und seine Wurzel ist die gleiche wie das Verb “wohnen”. Eine wirkungsvollere Übersetzung könnte daher lauten: “Seht, Gott wohnt bei den Menschen! Und er wird bei ihnen wohnen”.
Im Neuen Testament wird das griechische Verb “wohnen”, das, wie bereits erwähnt, die gleiche Wurzel wie “Hütte” hat, nur in der Apokalypse und nur einmal im Johannesevangelium verwendet:
“Das Wort ist Fleisch geworden und hat eine Zeitlang unter uns gewohnt, voll Gnade und Wahrheit” (Johannes 1,14).
Gott will also zu den Menschen kommen und bei ihnen wohnen, und diesen Wunsch hat er dem Volk Israel zum ersten Mal kundgetan, als er auf dem Berg Sinai Mose aufforderte, ihm ein Heiligtum zu bauen. Und er gab ihm nicht nur den Auftrag, es zu bauen, sondern er sagte ihnen auch, warum er es wollte und zu welchem Zweck er das Volk aus dem Land Ägypten geführt hatte:
“Ich werde unter den Kindern Israels wohnen und ihr Gott sein. Sie sollen erkennen, dass ich der Herr, ihr Gott, bin, der sie aus Ägyptenland geführt hat, um unter ihnen zu wohnen. Ich bin der Herr, ihr Gott” (Exodus 29,45-46).
Vergleichen Sie diese Worte mit denen der obigen Offenbarung und mit dem Zitat aus dem Johannesevangelium: Vielleicht werden dann die Fragen über Israel, obwohl sie weiterhin bestehen, nicht mehr dieselben sein wie zuvor.
Kurz gesagt: Während die heidnischen Religionen eine Bewegung aufsteigender individueller Seelen (ausgegliedert) zur himmlischen Wohnstätte der Gottheit darstellen, stellt der biblische Heilsplan einen Gott vor, der (leibhaftig) zu den Menschen herabsteigt, um unter ihnen auf der Erde zu wohnen.
Aber um unter den Menschen zu sein, müssen sie eine Gesellschaft, ein Volk bilden.
Das erste Volk, bei dem dies der Fall war, war das Volk Israel.