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Der Herr zählt, wenn er Völker [auf]schreibt. (Psalm 87,6a) – Menschen zählen, stellen fest, was Sache ist, analysieren einen Zustand und halten das Erkannte dann in Schriftform fest. Dieses menschliche Bedürfnis ist offensichtlich Teil der Gottebenbildlichkeit des Menschen (vergleiche 1. Mose 1,26).
Gott, der Herr, zählt und schreibt auf, genau wie er Josua einst geboten hatte, das Land Kanaan zu erkunden und kartografisch zu erfassen. Das war die Vorbereitung dafür, dass das Land dann per Los unter die Stämme Israels aufgeteilt werden konnte (Josua 18,8). Gott selbst erfasst und beurteilt die Realität, um dann dementsprechend nachvollziehbare Entscheidungen zu treffen und durchzusetzen.
Dabei nimmt es der Gott, der sich Abraham, Isaak und Jakob offenbart hat, sehr genau mit dem Hinsehen. Die Realität ist kompliziert, oftmals vielschichtig. Und noch einmal Hinsehen ist besser, als zu meinen, man wisse ja sowieso. Das tat der lebendige Schöpfer selbst, wenn er Abraham im Blick auf Sodom und Gomorrah erklärte: „Ich gehe hinunter und sehe nach, ob sie wirklich ganz so gehandelt haben, wie das Geschrei sagt, das vor mich gekommen ist, oder ob es nicht so ist. Ich will es [genau] wissen“ (1. Mose 18,21). Wenn sogar der eine, wahre, lebendige Gott so handelt, obwohl vor Ihm doch alles offen liegt, stellten die Lehrer Israels fest, wie viel mehr muss dann ein menschlicher Richter so vorgehen, bevor er ein Urteil zu fällen wagt.
…und definiert
Das hebräische Wort מספר/Mispar (Zahl) hat denselben hebräischen Wortstamm (ספר/sapar) wie das zweite Wort unseres Verses יספר/jispor (= wird zählen). Radak[1] denkt bei Psalm 87,6 an 5. Mose 32,8. Dort wird ausgesagt, dass „der Höchste, als Er den nichtjüdischen Völkern ihr Erbteil zuteilte, als Er die Menschenkinder trennte, die Grenzen der Völker festsetzte entsprechend der Zahl der Kinder Israel.“
Das heißt, der Schöpfer definiert Unterschiede zwischen Völkern und Kulturen und legt diese fest. Sodann verbindet er die einzelnen Volksgruppen mit bestimmten Gebieten auf diesem Globus, für die sie Verantwortung übernehmen sollen. Ländergrenzen sind nach biblischer Aussage weder Zufall noch das Ergebnis von Machtpolitik, sondern spiegeln den Willen und das Handeln des lebendigen Gottes wider. Und die Nation Israel ist der Orientierungspunkt für Gottes Handeln mit den nichtjüdischen Völkern.
Bücher im Himmel
Wenn vom Schreiben Gottes die Rede ist, ist natürlich zuerst an die Bücher zu denken, die im Himmel geführt werden, in denen bestimmte Menschen „zum Leben eingeschrieben“ sind (vergleiche etwa Jesaja 4,3). Nachdem die Israeliten das goldene Kalb gebastelt hatten, trat Mose vor Gott auf dem Sinai für das Volk ein, und bat: „Nimm doch ihre Verfehlung weg! Aber wenn das unmöglich ist, dann lösche mich aus deinem Buch, das du geschrieben hast“ (2. Mose 32,32).
Ganz anders betete David in Psalm 69,29 gegen diejenigen, die ihn verfolgten: „Sie mögen ausgelöscht werden aus dem Buch des Lebens. Mit Gerechten sollen sie nicht aufgeschrieben stehen.“ Von der letzten großen Zeit der Bedrängnis wusste der Prophet Daniel: „Zu der Zeit wird dein Volk entkommen, jeder, der im Buch geschrieben steht“ (Daniel 12,1).
Die Entscheidung
Gott zählt, schreibt auf, und trifft dem entsprechend Entscheidungen, die dann als festgelegt gelten. Die jüdische Tradition geht davon aus, dass es im Himmel Bücher gibt, in denen der Herr alle Namen derer, die auf der Erde leben, notiert.[2] Alschich[3] erwähnt in seinem Kommentar, dass dies am Neujahrsfest, an Rosch HaSchanah, geschieht. Dann werden „alle, die in die Welt kommen, einer nach dem anderen vor Gott vorübergehen“.
In dieser Situation übersieht der Vater im Himmel keinesfalls: Dieser ist geboren dort. (Psalm 87,6b)
Gleichmacherei und „alle über einen Kamm zu scheren“ liegt biblischem Denken fern. Der Schöpfer zählt und beurteilt jeden Einzelnen,[4] entsprechend seinem Hintergrund, seinen Begabungen, seinen Umständen und seinem Verhalten. Der nachdrückliche Hinweis „Der ist dort geboren!“ in diesem sonst so kurz gehaltenen Psalm zeigt, wie individuell der Schöpfer bei seiner Sicht auf den Einzelnen vorgeht. Lokale Prägungen, Belastungen oder welches historische oder familiäre Erbe wer mitbekommen hat sind von Bedeutung. Das kommt etwa im Gleichnis von den unterschiedlichen Talenten zum Ausdruck, das Jeschua erzählt (Matthäus 25,14-30; Lukas 19,12-27), aber auch beim Daniel.
Der Prophet sieht an der Wand des Festsaals Worte, die dort von einer geheimnisvollen Hand angeschrieben wurden. Daniel liest sie Belschazar vor: „Mene mene tekel u-parsin.“ Dann deutet der Gelehrte sie dem babylonischen König: „Mene, das ist, Gott hat dein Königtum gezählt und beendet. Tekel, das ist, man hat dich auf der Waage gewogen und zu leicht befunden“ – was dann selbstverständlich ernsthafte Folgen hat (Daniel 5,25-27).
Ein neues Jerusalem
Die Tradition von den himmlischen Büchern und dem Schreiben Gottes, reicht bis ins letzte Buch des Neuen Testaments hinein. Im vorletzten Kapitel der christlichen Bibel ist vom neuen Jerusalem die Rede, das von Gott aus dem Himmel herabkommt, „bereitet wie eine geschmückte Braut für ihren Mann“ (Offenbarung 21,2). „Der Herr liebt die Tore Zions“ (Psalm 87,2). Verblüffend ergänzen die Bilder, die der Seher Johannes auf Patmos sieht, die Szenen, die wir hinter den kurz angebundenen Sätzen des Psalms 87 zu erkennen meinen.
Johannes beschreibt, wie die Völker im Licht Jerusalems wandeln werden (Offenbarung 21,24). „Ich rufe Rahab und Babel ins Gedächtnis bei denen, die mich kennen. Sieh mal, Peleschet und Zor mit Kusch“ (Psalm 87,4).
Die Völker bringen ihre Pracht und ihren Reichtum in die Stadt Gottes (Offenbarung 21,26). „Er selbst hat sie [vor-]bereitet/gegründet, [der] Höchste/[als] Höchste“ (Psalm 87,5). „Und nichts Unreines wird hineinkommen und keiner, der Gräuel tut und Lüge, sondern allein, die geschrieben stehen in dem Lebensbuch des Lammes“ (Offenbarung 21,27).
סֶֽלָה׃
Sela.
Sela. (Psalm 87,6c) – Noch einmal, wie schon am Ende von Vers 3: „Ende der Durchsage. Schluss der Diskussion. Punkt!“ – deutet Malbim[5] dieses Wort, über dessen Bedeutung auch die rabbinischen Ausleger keine endgültige Klarheit haben.
Fußnoten:
[1] Rabbi David Ben Josef Kimchi (1160-1235), der so genannte „Radak“, war der Erste unter den großen Schriftauslegern und Grammatikern der hebräischen Sprache. Er wurde im südfranzösischen Narbonne geboren. Sein Vater starb früh, so dass David von seinem Bruder Mosche Kimchi erzogen wurde. Radak erlaubte philosophische Studien nur denjenigen, deren Glaube an Gott und Furcht des Himmels gefestigt sind. Öffentlich setzte er sich mit Christen auseinander und griff vor allem deren allegorische Schriftauslegung und die theologische Behauptung an, das „wahre Israel“ zu sein.
[2] עמוס חכם, ספר תהלים, ספרים ג-ה, מזמורים עג-קן (ירושלים: הוצאת מוסד הרב קוק, הדפסה שישית תש”ן/1990), קכז.
[3] Rabbi Mosche Alschich (1507/08-1593), auch „der heilige Alschich“ genannt, stammte aus Adrianopel, dem türkischen Edirne, unweit dem heutigen Dreiländereck Türkei-Bulgarien-Griechenland,[3] wo er an der Talmudschule des Rabbi Josef Karo studierte. 1535 wanderte er in das Land Israel aus, wo er sich in Zfat in Obergaliläa niederließ. Als ihm ein Jahr später sein Lehrer Josef Karo folgte, war er bereits einer der rabbinischen Richter in der Stadt. In der Folgezeit profilierte sich Alschich als Prediger und Ausleger der Bibel und des Talmuds. Einer Legende zufolge soll sein Sohn als Kind entführt und Muslim geworden sein. Alschich liegt in Zfat begraben, wo in der Altstadt heute noch eine alte Synagoge den Namen „Beit HaKnesset HaAlschich HaKadosch“ trägt.
[4] עמוס חכם, ספר תהלים, ספרים ג-ה, מזמורים עג-קן (ירושלים: הוצאת מוסד הרב קוק, הדפסה שישית תש”ן/1990), קכו.
[5] Meir Leibusch Ben Jechiel Michael Weiser (1809-1879) stammte aus der Ukraine und wirkte als Rabbiner, Talmudist, Bibelausleger und Prediger. Während seiner Zeit als Rabbiner in Kempen, Posen, (1845-1859) erhielt er den Beinamen „Kempner Maggid“. Als unerbittlicher Gegner der Reformbewegung und der jüdischen Aufklärung geriet der Malbim in Konflikt mit jüdischen wie nichtjüdischen Instanzen, wurde verleumdet und verhaftet. Er amtierte als Oberrabbiner von Rumänien, Königsberg und Mecklenburg. Seine Bibelauslegung konzentriert sich auf die „Tiefe der Sprache“ und die „grundlegende Bedeutung des Textes“ „basierend auf genauen linguistischen Regeln“.