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In Richtung Jerusalem sollte man beten. Das lernt jedes Kind in der Schule, mindestens in Israel. So hat es der alte König Salomo bei der Einweihung des ersten jüdischen Tempels gelehrt. Dafür hat der biblische Prophet Daniel sein Leben aufs Spiel gesetzt. Dreimal am Tage betete er am offenen Fenster in Richtung Jerusalem. Deshalb lehrt der Talmud, dass man „in einem Raum, der keine Fenster hat, nicht beten sollte“ (Babylonischer Talmud, Traktat Berachot 34b).
Seit Jahrtausenden beten orthodoxe Juden in aller Welt wenigstens dreimal täglich nach jeder Mahlzeit: „Baue Jerusalem, die Heilige Stadt, schnell in unseren Tagen!“ Ihr gesamter Tagesablauf, alle Gottesdienste, der Jahreszyklus und die biblischen Feste des Judentums sind geprägt von der Sehnsucht nach Jerusalem. Das Denken bibel- und traditionsgläubiger Juden ist durchdrungen von dem Bewusstsein, das im Psalm 137 zum Ausdruck kommt: „An den Wassern zu Babel saßen wir und weinten, wenn wir an Zion gedachten“ (Vers 1).
In Babel stehen dem Menschen alle Möglichkeiten offen. Wie in Ägypten kann er den Boden bearbeiten, „seinen Samen säen und selbst tränken wie in einem Garten“ (5. Mose 11,10). Wenn die Menschen ihre Kräfte nicht durch Uneinigkeit aufreiben oder aufgrund ihrer Faulheit brach liegen lassen, ist Babylon das Land, in dem Erfolg garantiert ist. Die regelmäßige Wasserversorgung durch die Ströme Euphrat und Tigris ist, neben dem schon in 1. Mose 11,3 erwähnten Erdharz, bis heute die Grundlage für den Reichtum des Zweistromlandes. So ist „Babel“ der biblische Inbegriff für Macht, Reichtum, Herrlichkeit, Üppigkeit, Schönheit, Weisheit und Kunst. Babylon wohnt „an großen Wassern“ und hat deshalb „große Schätze“ (Jeremia 51,13).
Das in der Bibel beschriebene Babel ist Inbegriff von Kultur und Zivilisation, die „Zarte und Verwöhnte“ (Jesaja 47,1), in der sich der Mensch „einen Namen macht“ (1. Mose 11,4). In Babel beweist er sich selbst, der Welt und Gott, was er aus eigener Kraft kann. Angesichts der Errungenschaften des „schönsten unter den Königreichen“ (Jesaja 13,19) muss selbst der Schöpfergott zugeben: „…nun wird ihnen nichts mehr verwehrt werden können von allem, was sie sich vorgenommen haben zu tun“ (1. Mose 11,6). Das biblische Babylon ist das „Land der unbegrenzten Möglichkeiten“, ganz im Gegensatz zu „Zion“.
Mose machte die Israeliten schon in der Wüste darauf aufmerksam, dass das „gelobte Land“, im Gegensatz zu Ägypten und Babylon, bergig ist und nur vom Regen und Tau des Himmels getränkt wird (5. Mose 11,10ff). Im Land Israel kann der Mensch seinen ganzen Fleiß, all sein Wissen und Können in den Erdboden stecken. Am Ende bleibt er doch auf den Segen Gottes, den Regen, angewiesen. In Israel kann der Mensch aus eigener Kraft nichts zustande bringen, weil es ein Land ist, „auf das der Herr, dein Gott, achthat“ (5. Mose 11,12). In Babylon oder Ägypten kann man vom Zustand des Landes und dem Erfolg seiner Menschen auf den Fleiß oder das Können der Arbeiter zurück schließen. Im Israelland dagegen hängt alles an der Zuwendung Gottes.
Und zu der Zeit, als die Israeliten „an den Wassern von Babel saßen“, war Zion auch noch „wie ein Acker gepflügt“, Jerusalem „zum Steinhaufen“ und „der Berg des Tempels zu einer Höhe wilden Gestrüpps“ geworden (Jeremia 26,18). Die rabbinischen Schriftausleger hören schon im Namen „Zion“ die „Ziah“, die Trockenheit, das verdorrte Land, die Steppe – gerade auch in Psalm 137, Vers 1, der mit „den Strömen Babels“ beginnt. Von der Herrlichkeit der Gottesstadt war jedenfalls nichts übriggeblieben. Die schlimmsten Erwartungen der Propheten waren schreckliche Wirklichkeit geworden. „Juda liegt jämmerlich da, seine Städte sind verschmachtet. Sie sitzen trauernd auf der Erde, und in Jerusalem ist nichts als lautes Klagen“ (Jeremia 14,2). Die Leute lagen auf den Gassen Jerusalems, vom Schwert und Hunger hingestreckt, und niemand konnte sie begraben, sie und ihre Frauen, Söhne und Töchter (Jeremia 14,16).
Es sind nur Verrückte, die weinen, wenn sie an Zion denken, noch dazu während sie an den „Wassern von Babel“ sitzen. Oder sind es diejenigen, die wissen, was selbst noch das zerstörte Zion in den Augen Gottes darstellt? Welche Pläne und Absichten der lebendige Gott mit diesem „vergessenen und von aller Welt verlassenen judäischen Bergnest“ hat, wie es ein christlicher Pilger in der Mitte des 19. Jahrhunderts charakterisierte?
Die geistlichen Leiter des jüdischen Volkes waren sich dessen bewusst, wie leicht man „Zion“ vergisst. Sie unternahmen alles, um die Erinnerung an Jerusalem im jüdischen Volk wachzuhalten. Deshalb sollte eine jüdische Frau niemals all ihren Schmuck zur gleichen Zeit tragen. Deshalb sollte auch das schönste Haus an irgendeiner Stelle, am besten in der Nähe des Eingangs, unvollkommen gelassen werden, zum Beispiel durch das Fehlen eines Stückes Verputz. Deshalb sollen auch beim rauschendsten Festbankett bewusst ein oder zwei Speisen ausgelassen werden (vergleiche den Babylonischen Talmud, Traktat Baba Batra 60b). All das, um auszuschließen, dass irdische Vollkommenheiten und Schönheiten darüber hinweg täuschen, dass erst im auferbauten Zion vollkommene Freude möglich ist.
Die jüdischen Gelehrten wussten schon im Altertum, dass Jerusalem nichts menschlich Attraktives, weder „die Früchte des Sees Genezareth“, noch „die Termalquellen von Tiberias“, zu bieten hat (Babylonischer Talmud, Traktat Pesahim 8b). Nur den vom Geist Gottes geeichten Augen und dem von der Liebe Gottes getränkten Herzen ist die in den talmudischen Schriften so hoch gepriesene Schönheit Jerusalems sichtbar. Deshalb hängten die Juden ganz bewusst „ihre Harfen an die Weiden dort im Lande“ (Psalm 137,2). Bis zum heutigen Tage ist aus diesem Grunde in orthodoxen Synagogen keine Instrumentalmusik zu hören.
Die Babylonier, von denen die Israeliten gefangen gehalten wurden, dienten zwar selbst nicht dem Gott Israels. Aber sie gehörten auch nicht zu denen, die anderen ihre eigene Kultur und ihre eigenen Glaubensüberzeugungen aufzuzwingen suchten, nicht einmal Besiegten. Vielmehr forderten sie die jüdischen Exulanten auf, ihre eigene Kultur und Religion mitzubringen und weiterzuentwickeln: Bringt das, was euch euer Gott anvertraut hat, mit ein in unsere Kultur! Macht uns bekannt mit dem, was euer Leben und eure Vorstellungen prägt! „Singt uns ein Lied von Zion!“ (Psalm 137,3) Immerhin ist die bis heute grundlegende Traditionssammlung des Judentums, der Babylonische Talmud, im Zweistromland entstanden.
Babel ist nicht nur das Land der unbegrenzten Möglichkeiten im materiellen Bereich, sondern auch ein „Markt der unbegrenzten religiösen Möglichkeiten“. In Babel ist alles erlaubt, wird alles toleriert. Niemand muss seinen Gott, seinen Glauben, seine Erfahrungen, Wünsche oder Vorstellungen zugunsten einer einheitlich vorgeschriebenen Staatsreligion zurückstellen. Toleranz ist die alles tragende Religion Babylons. Spätestens hier wird deutlich, dass es nur die wirklich „Verrückten“, die „starrsinnigen Fundamentalisten“ sind, die nicht anders können, als die Bibel wörtlich zu nehmen und dieser so wohlmeinenden Aufforderung zu entgegnen: „Wie könnten wir des Herrn Lied singen in fremdem Lande?“ (Psalm 137,4).
Wären die Gefangenen damals in Babylon „rechte Christen“ und nicht „jüdische Starrköpfe“ gewesen, hätten sie dieses Angebot schleunigst beim Schopf ergriffen. Ihre Erinnerungen an Jerusalem wären zum „Prinzip Zion“ vergeistlicht, ihre Sehnsucht existenzial uminterpretiert und damit politisch korrekt in die rechten Bahnen geleitet worden. Nur noch im stillen Kämmerlein hätten sie die „Herzenstüren“ in Richtung (des theologischen Konzeptes) „Zion“ geöffnet…
Doch die Sänger des Psalms 137 hatten auch an den „Wassern von Babylon“ nicht vergessen, dass Freude nur vollkommen sein kann, wenn Jerusalem auferbaut, das Volk Israel mit dem Land Israel vereint ist und Zion, das heißt die Stadt Jerusalem im Lande Judäa, seinem von Gott bestimmten Zweck dient. Sie wussten: „Vergesse ich dich, Jerusalem, so verdorre meine Rechte“ (Psalm 137,5).
Wenn Gott etwas Entscheidendes tut, dann sieht der biblische Sprachgebrauch ihn das mit „seiner Rechten“ tun. Mit „seiner Rechten“ hat der Schöpfer „den Himmel ausgespannt“ (Jesaja 48,13) und Israel aus Ägypten erlöst (2. Mose 15,6.12). Die „Rechte“ des Herrn ist aus Moses Sicht der Ursprung der Tora (5. Mose 33,2). Nicht militärische Macht oder taktische Schläue haben den Israeliten zu ihrem Land verholfen, „sondern deine Rechte, dein Arm und das Licht deines Angesichts“ hat Zion erworben (Psalm 44,4; 78,54).
Der gläubige Israelit weiß, wenn sein Gott hilft, errettet oder erlöst, das heißt, „Heil schafft“, dann tut er das mit seiner „rechten Hand“. Er weiß um die Zusage seines Gottes, „ich halte dich durch die rechte Hand meiner Gerechtigkeit“ (Jesaja 41,10) und antwortet ihm darauf: „Meine Seele hängt an dir; deine rechte Hand hält mich“ (Psalm 63,9). Denn Gottes „rechte Hand“ pflanzt, erfreut, stärkt, herrscht und richtet „voll Gerechtigkeit“. Und wenn der Gott Israels sich gegen sein Volk wendet, dann hat er „seine rechte Hand zurückgezogen“ oder „seine rechte Hand… geführt wie ein Widersacher“ (Klagelieder 2,3f.).
Dieser alttestamentlich-jüdische Sprachgebrauch zieht sich bis ins Neue Testament hinein, wenn die Apostel vom Messias Jesus sagen, dass „Gott [ihn] durch seine rechte Hand erhöht [hat] zum Fürsten und Heiland, um Israel Buße und Vergebung der Sünden zu geben“ (Apostelgeschichte 5,31). Deshalb schwört der lebendige Gott „bei seiner Rechten“, ja, „die rechte Hand“ Gottes steht für ihn selbst. Deshalb singt man „mit Freuden vom Sieg in den Hütten der Gerechten“: „Die Rechte des Herrn behält den Sieg! Die Rechte des Herrn ist erhöht; die Rechte des Herrn behält den Sieg!“ (Psalm 118,15f.).
Was die Heilige Schrift über die Bedeutung der „rechten Hand“ Gottes für das Handeln Gottes aussagt, das gilt auch für die „rechte Hand“ eines Menschen. Wenn ein Mensch erfolgreich sein will, dann muss er sein Werk mit seiner „rechten Hand“ auf die rechte Weise vollbringen. Und wenn ein Mensch erfolgreich war, dann hat er das mit seiner „rechten Hand“ geschafft. Die „rechte Hand“ von Menschen spielt in der Bibel eine entscheidende Rolle beim Segnen, beim Unterscheiden, bei der Reinigung und beim Gutes Tun. Deshalb ist auch entscheidend, dass „der Herr… dein Schatten über deiner rechten Hand“ ist (Psalm 121,5).
Darüber hinaus sehen jüdische Rabbiner einen Zusammenhang zwischen „meiner Rechten“ (yemini) und dem Wort „leha’amin“. Das hebräische Verb „leha’amin“ bedeutet „vertrauen, treu sein, jemandem etwas zutrauen, glauben“. Es bezeichnet die Beziehung zwischen Gott und Mensch. Von daher erstaunt es wenig, wenn der biblische Sprachgebrauch an manchen Stellen die „rechte Hand“ eines Menschen als das Organ bezeichnet, durch das Gott mit einem Menschen Verbindung aufnimmt und kommuniziert.
Im 137. Psalm „vergisst“ die „rechte Hand“, so wörtlich übersetzt, ihre Funktion, wenn sie Jerusalem vergisst. Wie ein welkendes Blatt verdorrt sie und fällt schließlich ab. Damit wird einem Menschen jede Möglichkeit genommen, in den Augen der Menschen, aber auch in den Augen Gottes, etwas zu schaffen, das als „Erfolg“ oder gar „Frucht“ bezeichnet werden könnte.
Ja aber, wird jetzt so mancher Bibelleser einwenden, kann man das denn so absolut sagen, dass einem, der Jerusalem vergisst, jede Möglichkeit genommen wird, erfolgreich zu sein? Und hat Gott nach den ersten Aussagen der Heiligen Schrift nicht durch sein Wort geschaffen? Ja, das stimmt! Und deshalb vergessen die „Zionisten“ an den „Wassern von Babylon“ auch nicht hinzuzufügen: „Meine Zunge soll an meinem Gaumen kleben, wenn ich deiner nicht gedenke, wenn ich nicht lasse Jerusalem meine höchste Freude sein“ (Psalm 137,6).
Nach dem hebräischen Urtext soll Jerusalem nicht etwa nur die „höchste Freude“, oder, um im biblischen Sprachgebrauch zu bleiben, der „Kopf meiner Freude“ sein. Jegliche Möglichkeit, etwas zu schaffen, sei es durch das „Wort“ oder die „rechte Hand“, soll mir genommen sein, wenn ich Jerusalem nicht erhebe „über das Haupt meiner Freude“ hinaus, das heißt, wenn Jerusalem nicht alle nur denkbaren, irdischen und geistlichen, Freuden übersteigt.