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Ein Vorbild für den Messias
Der Jakobssohn Josef ist ein Vorbild für den Messias Israels. Er wurde vom Hohen Rat seiner Brüder zum Tod verurteilt und verkauft. Dadurch wurde er zum Retter der Nichtjuden. Die mussten ihn zu ihrem König machen, ihm ihr Eigentum, ihr Land, ihr Leben, ihre ganze Existenz verkaufen.
Durch den Weg Josefs wurde die Großmacht Ägypten nicht nur mit Brot versorgt, sondern auch mit dem einen, wahren, lebendigen Gott konfrontiert. Josef zeichnet durch seine Biographie den Weg des Erretters der Welt vor. Paulus schreibt in Römer 11,11: Durch ihren Fall geschieht die Rettung der nichtjüdischen Völker. Das ist eine Grundbotschaft, die sich durch die ganze Heilige Schrift zieht.
Als die Brüder Josefs ihm dann Jahre später wieder begegnen, erkennen sie den ägyptischen Herrscher nicht. Nach einem Prozess, der sich Monate, vielleicht sogar Jahre hinzieht, offenbart sich Josef seinen Brüdern. Die sind schockiert. Wie kann das sein? Der nicht mehr war, ist! Er existiert. Und er herrscht! An ihm entscheidet sich alles. Er ist der Schlüssel zum Brot. Er entscheidet über Leben und Tod.
Josef fackelt nicht lange. Er schickt seine Brüder los, um den alten Vater Jakob zu holen. Wie sich bald herausstellen wird, kann auch der Vater nicht glauben.
Ein Weg will beschritten werden
Als Erstes bleibt festzuhalten: Josef schickt seine Brüder auf einen Weg (1. Mose 45,24). Genauso schickt Jesus seine Jünger in die Welt (Matthäus 28,18-20). Es ist bemerkenswert, dass Jesus von sich selbst nie behauptet hat, Er sei die Lösung aller Probleme. Vielmehr sagte Er von sich selbst gesagt: Ich bin der Weg… (Johannes 14,6).
Charakteristisch für jeden Weg ist, dass sich ständig etwas ändert: Die Umgebung, die Perspektive, das Alter dessen, der ihn begeht, und damit auch sein Erfahrungsschatz. Einen Weg zu gehen fordert, in Bewegung zu sein; die Position und damit den Blickwinkel zu ändern; die Bereitschaft, sich korrigieren zu lassen; zu wachsen.
Je länger jemand auf dem Weg „Jesus“ unterwegs ist, umso klarer wird, wie sehr unser menschliches Wissen, unsere Erkenntnis und deshalb auch unser prophetisches Reden Stückwert sind; wie sehr wir durch einen Spiegel ein verschwommenes Bild sehen. Logisch: Erst im Rückblick erkennt der Erwachsene, dass seine Sicht- und Verhaltensweise früher die eines Kindes war. Jeder Jugendliche hält sich selbst für erfahren, wissend, vielleicht sogar weise (vergleiche 1. Korinther 13,8-13).
Wenn Menschen unterwegs sind, gibt es immer Grund zum Streiten. Nur wenn sich eine Gruppe Gleichgesinnter weigert, das eigene Land, die Heimat und das Vaterhaus zu verlassen (vergleiche 1. Mose 12,1) und sich womöglich der Sicht eines Einzelnen aus dieser Gruppe unterordnet, ohne diese zu hinterfragen, ist Konformität möglich. Ansonsten sind auf der Wanderschaft Diskussionen unvermeidlich.
Wahrheit ist umstritten
Auf dem Weg von Ägypten nach Kanaan hatten die Brüder unendlich viel Gesprächsstoff: Wie konnte das geschehen? Wer war verantwortlich? Dass da viele offene Wunden, viele Unklarheiten und Ungewissheiten blieben, wird schon daran klar, dass sie sich Jahre später ihrem jüngeren Bruder noch einmal ganz offiziell als rechtlose Sklaven zur Verfügung stellten (1. Mose 50,15-21).
Wie soll das alles weitergehen? Ist es wirklich weise, sich aus dem zerklüfteten kanaanäischen Bergland im Grenzgebiet zwischen den verfeindeten Großmächten am Nil und im Zweistromland, aus der objektiven Grauzone auf eine Seite zu schlagen? Hungersnöte hat es immer gegeben. Das Leben im Wüstenrandgebiet war riskant. Aber dieses Risiko war der Preis für die Freiheit. War die Gewissheit, alles zu bekommen, was man zum Leben braucht, wirklich hinreichend, um die Ungebundenheit in der Steppe aufzugeben?
Und überhaupt: Wie sah die Beziehung zwischen Josef und dem Herrscher Ägyptens tatsächlich aus? Hatte der Bruder, der ja schon immer zu Träumereien neigte, sich da nicht überschätzt, wenn er sie alle einlud? Dass es da noch Ungereimtheiten gab, hatte sich ja spätestens bei der gemeinsamen Mahlzeit gezeigt. Josef konnte mit den Ägyptern nicht einmal Tischgemeinschaft haben (1. Mose 43,32)!
Wenn Josef seine Brüder anweist: Streitet nicht auf dem Wege!, dann hatte er vielleicht nicht nur diese Überlegungen (und noch mehr Gesichtspunkte?!) vor Augen, sondern auch die Neigung der Söhne Israels, zu allem „Ja, aber…“ zu sagen. Das ist eine Grundeigenschaft des jüdischen Volkes geblieben.
Genau wie die Josefsbrüder haben auch die Jesusjünger einen Auftrag. In beiden Fällen geht es darum, Ungläubige, Verbitterte, Verirrte dem Auftraggeber vorzustellen. Entscheidend ist, dass der alte Vater Jakob mitkommt und so den verschollenen Sohn wiedersieht.
Das Leben will hingegeben werden
Im hebräischen Urtext fällt auf, dass Josef weder das übliche Wort für zürnen, zornig sein (כעס, ka‘as) noch das gewöhnliche Wort für streiten, hadern (ריב, riv) benutzt, um seine Brüder zu ermahnen, sondern die Wortwurzel „רגז“ (ragas – mit stimmhaftem „S“ wie in „Sonne“, weshalb im Englischen diese hebräische Wortwurzel oft mit ragaz umschrieben wird). Was wollte Josef seinen Brüdern sagen, wenn er weder von Zürnen (כעס, ka‘as) noch vom Streiten (ריב, riv) sprach?
Dieselbe Wurzel (רגז, ragas = zittern, beben) wird verwendet, um das zu beschreiben, was die nichtjüdischen Völker erleben, wenn sie mitansehen, wie der lebendige Gott mit Israel handelt (2. Mose 15,14; 5. Mose 2,25; 1. Samuel 14,15; Jeremia 33,9; 50,34; Micha 7,17), oder einfach nur, weil der Herr als König herrscht (Psalm 99,1; ähnlich Jesaja 64,1; Habakuk 3,7.16). Wenn der eine, wahre, lebendige Gott erscheint, bebt die ganze Schöpfung (2. Samuel 22,8; Psalm 18,8; Psalm 77,17.19; Hiob 9,6; Jesaja 5,25; 13,13; Joel 2,1.10).
Zittern kann in der Bibel auch eine Folge von Ungehorsam sein. Deshalb bebten nicht nur das Volk Israel (5. Mose 28,65) und das Land Israel (Amos 8,8), sondern auch der Prophet Hesekiel (Hesekiel 12,18). Und dann verspricht Gott Seinem Volk eine Zukunft, in der es nicht mehr beben wird (2. Samuel 7,10; 1. Chronik 17,9).
Insofern ist es nicht unlogisch, wenn der Rabbiner Samson Raphael Hirsch zu dem Schluss kommt, dass רגז (ragas) „überwiegend nicht eine zürnende, sondern eine fürchtende innere Bewegung“ sei und Josef deshalb seinen Brüdern sage: „Leget eure Reise guten Mutes zurück und machet euch für alle Zukunft keine Sorgen!“[1] In gewisser Weise entspricht dieses „Fürchtet euch nicht!“, das Josef seinen Brüdern mit auf den Weg gibt, dann dem „Mir ist gegeben alle Autorität…“ oder dem „Ich bin bei Euch alle Tage…“ (Matthäus 28,18.20), das der Messias Jesus seinen Jüngern zusagt, bevor er sie aussendet. Allerdings kann das Beben in den biblischen Texten auch ein Ausdruck der Rebellion gegen Gott sein (2. Könige 19,27.28/Jesaja 37,28-29; Esra 5,12; Hiob 12,6).
Ganz gleich, ob das Zittern einer überwältigenden Ehrfurcht, Schuldgefühlen, Zukunftsängsten, einer realistischen Einschätzung der Wirklichkeit, theologischen Erkenntnissen oder unumstößlichen Überzeugungen, die sich bedroht fühlen, entspringt, Josef sagt seinen Brüdern: Lasst Euch nicht aus der Fassung bringen! Verliert das Ziel nicht aus den Augen, das ich Euch gesetzt habe.
Im heutigen Umgangshebräisch wird die Wurzel רגז (ragas) gebraucht, wenn man sagen will, dass jemand sauer ist, weil er beleidigt oder verletzt wurde. Und genau darum geht es. Wenn Jesus im Blick auf seine Nachfolger bittet, dass sie eins seien oder Liebe untereinander haben, dann war das keine indirekte Aufforderung, Meinungsverschiedenheiten unter den Teppich zu kehren.
Im Gegenteil: Der Herr war sich darüber im Klaren, dass es auf dem Wege Auseinandersetzungen geben würde. Das Neue Testament berichtet davon, wie schon die allerersten Jünger mit Meinungsunterschieden umgehen lernten.
Wenn es keine Meinungsunterschiede gibt, muss das aufschrecken. Ein Mangel an unterschiedlichen Sichtweisen ist nicht selten ein Indikator für blinden Kadavergehorsam. Hätte der Schöpfer davon geträumt, hätte er Marionetten erschaffen und nicht Menschen in Seinem Bild.
Es gehört wohl zu den größten Opfern, die einem Menschen abverlangt werden, wenn er sich in einen geistlichen Dienst gerufen weiß; sich dessen gewiss ist, dass ihm der lebendige Gott selbst eine Aufgabe zugeteilt hat; er mit Josua gesagt hat: Ich und mein Haus, wir wollen dem Herrn dienen! – und dann verlangt wird, diesen Dienst auf den Altar zu legen.
Aber genau das tut der Vater im Himmel immer wieder – seitdem Er von Abraham verlangt hat, Isaak darzubringen (1. Mose 22). Und Er tut das bis zum heutigen Tag. Damit wird übrigens in keiner Weise in Frage gestellt, dass Isaak tatsächlich exklusiv Verheißungsträger ist.
Ganz schwer wird es, wenn der Vater im Himmel als Opfer theologische Erkenntnisse fordert, die uns viel Schweiß gekostet haben; die wir für absolut entscheidend halten; ohne die wir uns unsere Glaubensexistenz überhaupt nicht mehr vorstellen können. Und dabei sind diese Erkenntnisse vielleicht genauso korrekt, wie Isaak der verheißene Sohn war.
In solchen Situationen ist entscheidend, dass wir uns an das erinnern, was tatsächlich geschrieben steht. Jesus hat nie darum gebetet, dass wir alle rechtgläubig seien; und auch nicht, dass wir alle die richtige Erkenntnis hätten. Sondern, dass wir eins seien.
Wenn Er vor dem Vater lag und ganz praktisch Gehorsam lernte, um letztendlich zu dem Schluss zu kommen: Nicht mein Wille, sondern deiner geschehe (Lukas 22,42; vergleiche Johannes 6,38; 12,27; Philipper 2,8; Hebräer 5,7-9), dann hatte das zur Folge, dass der Eine, der von sich sagen konnte: Ich bin das Leben!, mausetot vor aller Öffentlichkeit am Kreuz hing.
Wer mit dem Messias gestorben ist, hat keinen Grund mehr zu streiten. Ein Leichnam kann nicht mehr reagieren, weil er tot ist. Wenn zwei sich streiten, ist keiner von beiden gestorben, schon gar nicht mit Christus. Wenn auch nur einer von den Streitenden tot wäre, gäbe es schlicht keinen Grund mehr zum Streit.
Ich weiß, dass der Tod am Kreuz nicht das Ende der Messias-Geschichte ist. Und der Tod mit Christus ist auch nicht das Ziel unserer Laufbahn. Wenn wir mit Christus gestorben sind, werden wir mit Ihm auferstehen. Das ist absolut sicher. Aber so weit sind wir jetzt noch nicht. Für unsere Frage nach dem Streit unter Brüdern ist entscheidend, dass wir auf dem Weg sind. Und bis jetzt hat noch keiner von uns das Ziel erreicht.
Fußnoten:
[1] Samson Raphael Hirsch, Die Fünf Bücher der Tora mit den Haftarot, übersetzt und erläutert von Dr. Mendel Hirsch, Erster Teil: Bereschit (Basel: Verlag Morascha, 2008), 662.