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Sind die Knessetwahlen vom 1. November 2022 das Ende des Marathons von fünf Wahlgängen in vier Jahren? Oder sind sie der Beginn vom Schrecken eines Rechtsrucks im jüdischen Staat? Wer diesen jüngsten Wahlgang in Israel realistisch einordnen möchte, sollte einige Eckpunkte nicht außer Acht lassen.
Erstens: Israel ist ein demokratisches Land. Eine Wahlbeteiligung von mehr als 70 Prozent spricht nicht für eine Wahlmüdigkeit oder mangelndes Interesse der Israelis an ihrer Demokratie. Deshalb ist ein Wahlergebnis – ganz gleich, ob es schmeckt oder nicht – als legitimer Ausdruck des Willens des Volkes im Staat Israel ernst zu nehmen.
Zweitens ist es schlicht Tatsache: Benjamin Netanjahu ist der beliebteste Ministerpräsident, den der Staat Israel jemals hatte. Er mag umstritten, in manchen Kreisen unbeliebt oder gar viel gehasst sein. Aber ein Diktator ist er nicht. Ein Diktator lässt sich nicht so einfach abwählen, wie das mit Netanjahu im März 2021 geschehen ist.
Bereits in seiner letzten Amtszeit hat Netanjahu David Ben Gurion als am längsten amtierenden Premier Israels überrundet. Sein Comeback spricht für sich. Der persönliche Sieg Netanjahus in diesen Tagen ist unumstritten. Diejenigen, die sich schon vor Koalitionsverhandlungen eindeutig für ihn als Regierungschef ausgesprochen haben, stellen eine Mehrheit von 64 Abgeordneten in einem Parlament, das 120 Knessetabgeordnete umfasst. Der Bildung einer handlungsfähigen Regierung scheint dieses Mal nichts im Wege zu stehen.
Als Schlagzeile macht sich ein Rechtsruck in Israel immer gut. Allerdings ist die politische Entwicklung der israelischen Gesellschaft keine Neuigkeit. Spätestens seit der Juraprofessor Amnon Rubinstein in seiner „Geschichte des Zionismus von Theodor Herzl bis heute“ die Zerstörung der israelischen Linken durch Jasser Arafat festgestellt hatte. An die Formel „Land für Frieden“ glaubt in Israel keiner mehr. Von allem Land, das der jüdische Staat abgegeben hat, hat er nichts als Hass und Raketen geerntet.
Wo „rechts“ und „links“ in der politischen Landschaft Israels anzusiedeln ist, hat sich so manch einfacher deutscher Beobachter schon vor zwei Jahrzehnten verwirrt gefragt, wenn die Konrad-Adenauer-Stiftung in Israel Politiker wie Schimon Peres hofierte, als habe die CDU schon immer zur Sozialistischen Internationale gehört – während Politiker, die ideologisch den bürgerlichen Parteien der Bundesrepublik eigentlich viel näher standen, eher nicht als natürliche Partner betrachtet wurden.
Wenn man die 25. Knesset in „rechts“ und „links“ aufteilen möchte, dann gehören zu den 57 Abgeordneten des angeblich linken Anti-Netanjahu-Blocks 24 zur „Jesch Atid“ („Es gibt eine Zukunft“)-Partei des scheidenden Ministerpräsidenten Jair Lapid. Man erinnere sich: Der Journalist Lapid hatte einst seinen Wahlkampf in der Siedlerstadt Ariel begonnen und war zuletzt Premierminister im Wechsel mit dem Chef der Siedlerpartei „Neue Rechte“ von Naftali Bennet und Ajellet Schaked, die man nur schwer als „links“ bezeichnen kann.
Weitere sechs Abgeordnete gehören zur „Israel Beiteinu“ („Israel, unsere Heimat“) von Avigdor Lieberman, der – soweit er in Europa wahrgenommen wurde – ebenfalls wohl kaum als Linker oder auch nur gemäßigt bezeichnet wurde. Mit Lapid verbindet ihn vor allem eine fast schon aggressive Anti-Religiosität und in der letzten Legislaturperiode der feste Wille, eine Regierung unter seinem ehemaligen Chef Netanjahu unter allen Umständen zu verunmöglichen.
Dann sind da im linken Spektrum des 25. Parlaments der israelischen Demokratie noch zwölf Abgeordnete der Partei „Nationale Einheit“ des ehemaligen Generalstabschefs Benny Gantz. Als Netanjahu in einem der Wahlkämpfe der vergangenen Jahre einmal getwittert hatte: „Wenn ich gewählt werde, werde ich das Westjordanland annektieren!“ – hatte Gantz spontan geantwortet: „Ich auch!“. Obwohl beide dazu die Autorität gehabt hätten, hat das dann aber keiner von beiden getan. Und heute ist gleiches Recht für alle in den besetzten Gebieten überhaupt kein Thema mehr.
Schließlich bleiben für eine Linke in der Knesset noch vier Abgeordnete der sozialdemokratischen Labor-Partei, nachdem die Meretz-Partei an der 3,25-Prozent-Hürde gescheitert ist, und zehn arabische Abgeordnete. Bei diesen israelischen Arabern stellt sich allerdings die Frage, ob man die „Ra’am“-Partei von Mansur Abbas, die bislang zur Regierungskoalition gehörte und jetzt mit fünf Abgeordneten sogar einen Sitz gewonnen hat, tatsächlich als „links“ einordnen möchte. Nach deutschen Maßstäben müsste man Abbas‘ Einstellung wohl eher als islamistisch bezeichnen.
Vollmundige aber inhaltliche hohle Versprechungen israelischer Politiker werden durch panische Übertreibungen und Polarisierungen von Beobachtern und Journalisten nicht verständlicher. In den maßgeblichen politischen Fragen sind die Unterschiede zwischen den Parteien, die jetzt in der Knesset vertreten sind, so marginär, dass sie für den einfachen Mann auf der Straße kaum einsichtig sind.
Alle genießen den wirtschaftlichen Erfolg des jüdischen Staates, beziehungsweise leiden darunter, dass die Lebenshaltungskosten viel zu hoch, die Löhne viel zu niedrig, die sozialen Unterschiede viel zu groß und der israelische Schekel viel zu stark ist.
Im Verhältnis zu den Palästinensern, zu den arabischen Nachbarn, zur Welt überhaupt und zum Iran im Besonderen gibt es innerisraelisch keine Diskussionen. Zuletzt wurde der Gazastreifen bombardiert, als die Islamisten der Ra’am-Partei mit in der Regierung saßen. Generell sind sich sunnitische Araber mit Israel in ihrer Gegnerschaft zum schiitischen Iran einig. Ein Zittern im Blick auf die Vertragstreue des jüdischen Staates, das möglicherweise bei den Partnern der so genannten „Abrahamsabkommen“ vorhanden war, ist jetzt unnötig, wenn der israelische Unterzeichner dieser Abkommen wieder an der Macht ist.
Itamar Ben Gwir oder Bezalel Smotritsch („Religiöser Zionismus“) sind mit einem Zuwachs von acht Abgeordneten fraglos die großen Wahlgewinner dieser Wahl. Wie teils rassistische oder homophobe Äußerungen in israelische Tagespolitik umgesetzt werden, wird interessant. Ähnliches gilt für das Gewicht der Ultraorthodoxen, die einerseits Englisch und Mathematik als Pflichtschulfächer in Frage stellen, deren Frauen aber gleichzeitig massiv als Mitarbeiterinnen in die IT-Industrie drängen.
Das vergangene Jahr und die Anti-Netanjahu-Regierung haben alle diejenigen, die Israel als Apartheid-Staat bezeichnet haben, Lügen gestraft. Dass Mansur Abbas eine Beteiligung an einer Regierung Netanjahu nicht spontan und kategorisch ausschließt, spricht Bände. Das relativiert gleichzeitig auch das politische Gewicht und die Forderungen von Ben Gwir und Smotritsch. Spannend werden die Koalitionsverhandlungen der nächsten Wochen auf jeden Fall.