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Der prophetische Beter von Psalm 87 sieht für die Zukunft voraus: Wenn es um das vom Herrn geliebte Zion geht, lassen sich die Weltmächte Ägypten und Babylon als „Vertraute“ in den Plan Gottes einbinden (Vers 4a).
Aber das gilt nicht nur für diese beiden politischen und kulturellen Spannungspole, zwischen denen sich Israel seit Jahrtausenden findet, sondern für alle Völker, die mit dem auserwählten Volk in Verbindung stehen, nah und fern (Vers 4b): “Sieh mal, Peleschet und Zor mit Kusch.“
„Peleschet“ sind die Philister, die unmittelbaren Nachbarn, oft sogar die Mitbewohner des auserwählten Volkes im verheißenen Land Israel. Ungefähr zeitgleich waren sie mit den Israeliten in das Land Kanaan eingewandert. Sie hatten vor allem die Küstenebene im Südwesten des Landes besiedelt.[1]
Ambivalenz
„Peleschet“ ist geprägt von einer Hass-Liebe zum Volk Israel. Die beiden Nachbarn konnten sich nie durch eindeutige Grenzen voneinander trennen. Ihr Verhältnis war gezeichnet von der Spannung zwischen der Notwendigkeit des Zusammenlebens und ständiger Konkurrenz, dem Streit um die Vorherrschaft und Eifersucht.[2]
„Zor“ ist der hebräische Name für Tyrus, das sagenhafte phönizische Handelszentrum, wenige Kilometer nördlich der israelischen Grenze am Ostrand des Mittelmeeres gelegen.[3] In der Antike war der Name „Tyrus“ ein Synonym für Prunk, Weltoffenheit, Kultur, Aufklärung, Humanismus, eine überwältigende militärische Macht zur See, aber auch für Überheblichkeit.[4] Tyrus war aus der Perspektive Israels das Tor zum Einflussbereich der Phönizier, der den gesamten Mittelmeerraum umfasste.
König Hiram von Tyrus pflegte eine enge Freundschaft mit dem israelitischen König David und seinem Sohn Salomo. Durch Baumaterial und Fachkräfte unterstützte er den Bau von Palästen und dann vor allem des Tempels in Jerusalem.[5]
Fruchtbare Kooperation
Im 9. und 10. Jahrhundert vor unserer Zeitrechnung bestanden enge politische und wirtschaftliche Beziehungen zwischen Jerusalem und Tyrus. Zur Zeit Salomos wurden diese durch einen Staatsvertrag geregelt (1. Könige 5,26b).
Die Grenzen zwischen beiden Staaten wurden freundschaftlich hin und her verschoben.[6] Gemeinsame Expeditionen in ferne Länder ermöglichten den Import von sagenhaften Luxusgütern.[7] Später, bis zu der Zeit, in der der zweite Tempel in Jerusalem unter Esra gebaut wurde, gab es eine enge Kooperation zwischen Tyrus und Jerusalem.[8]
Ein Problem
Zur Zeit Nehemias werden die Tyrer dann allerdings zur Herausforderung für das auserwählte Volk, weil sie diesem „Fische und allerlei Ware“ am Schabbat(!) zum Kauf anboten (Nehemia 13,16) – was letztendlich „Zorn über Israel“ brachte (Vers 18).
Psalm 83 erwähnt „Peleschet und die Einwohner von Zor“ (Vers 7) unter denen, die gegen Israel einen Bund gemacht haben (Vers 6). Sie hatten vereinbart, Israel als Volk zu vernichten, „so dass des Namens Israel nicht mehr gedacht werde“ (Vers 5).
Der Prophet Joel[9] nennt „Tyrus und Sidon“ neben „allen Gebieten von Peleschet“ paradigmatisch für die nichtjüdischen Völker, mit denen der Herr einen Rechtsstreit führt, weil sie sich am Volk und Land Gottes vergangen haben.
Die Heiden aus dem Norden
Zur Zeit von Judas Makkabäus werden „die Heiden aus Tyrus“ neben denen „aus Ptolemais – dem heutige Akko –, Sidon und ganz Galiläa“ genannt. Auch sie waren zusammengekommen, „um die Israeliten auszurotten“ (1. Makkabäer 5,15). Mehrere Kapitel widmet die Heilige Schrift den Androhungen und Beschreibungen des Gerichts, das Gott über Tyrus bestimmt hat.[10]
„Kusch“ beherrschte Schwarzafrika, das Land am oberen Nil. Auf die heutige Landkarte übertragen, sind das nicht nur die Länder Sudan und Äthiopien, sondern auch die ostafrikanischen Länder rund um den Viktoriasee: Kenia, Uganda, Ruanda, Burundi und Tansania. Die offizielle Quelle des Weißen Nils ergießt sich bei Jinja, östliche von Kampala in Uganda, aus dem Viktoriasee in Richtung Norden bis der längste Fluss der Welt dann letztendlich ins Mittelmeer mündet.
Die Bevölkerung von „Kusch“ hat eine schwarze Hautfarbe (Jeremia 13,23), ist „hoch gewachsen, glatt, stark, schrecklich“.[11] Das Land wird in der Bibel als Teil des Gartens Eden erwähnt. Schon dort wird Kusch mit „Wasserströmen“ assoziiert[12] und steht für die äußerste Südgrenze des zivilisierten Ägyptens[13].
Ein Enkel Noahs trug den Namen „Kusch“[14]. Mose hatte eine „kuschitische Frau“ und deshalb Probleme mit seinen Geschwistern Mirjam und Aaron (4. Mose 12,1). Die Bibel erwähnt mehrere Menschen, die im Volk Israel lebten und den Namen „Kusch“ trugen oder als „Kuschi“ bezeichnet wurden[15]. Im heutigen Israel trägt die Bezeichnung „Kuschi“ in etwa die Assoziationen und rassistischen Konnotationen wie das englische „Nigger“ oder der deutsche „Neger“.
Hilfe aus Ostafrika
In der Bibel sendet „Kusch“ mit leichten Schiffen schnelle Boten über das Meer (Jesaja 18,2). Es ist bekannt für seinen weit reichenden Handel (Jesaja 45,14) und seine Edelsteine[16], aber auch für seine militärische Macht[17]. Im Laufe der Geschichte sah sich das Land Israel immer wieder der Gefahr ausgesetzt, zwischen den Mächten des Zweistromlands einerseits und Ägypten und Kusch andererseits aufgerieben zu werden.[18]
Zur Zeit der Könige suchte Juda Unterstützung bei Ägypten und Kusch gegen die assyrische Bedrohung aus dem Norden (Jesaja 20,5-6). Später gehörte Kusch zu den Diasporaländern, aus denen Gott sein Volk erlösen muss (Jesaja 11,11). Immer wieder, bis in die apokalyptische Endzeit hinein, taucht Kusch als Teil einer anti-israelitischen Koalition auf, die das Gottesvolk bedroht[19].
Deshalb verkündet der Gott Israels Gericht über das Land im Süden Ägyptens[20]. Doch – wie schon bei „Rahav“, „Bavel“, „Peleschet“ und „Zor“ – ist auch das Ziel der Gerichte Gottes über „Kusch“ nicht Hinrichtung, sondern Aufrichtung und Ausrichtung, nicht die Vernichtung des Landes, sondern dass sie dem Herrn Geschenke bringen werden an „den Ort des Namens des Herrn, zum Berg Zion“.[21]
Anbeter vom „schwarzen Kontinent“
Die Bibel sieht voraus, dass Afrikaner Israels besondere Rolle anerkennen und seinen Gott anbeten werden (Jesaja 45,14). „Mohrenland wird seine Hände ausstrecken zu Gott“, übersetzte Luther Psalm 68,32: „Ihr Königreiche auf Erden, singet Gott, lobsinget dem Herrn!“
Für alle diese teils näher liegenden, teils weiter entfernten nichtjüdischen Nachbarn Israels gilt: “Dieser wurde dort geboren” (Psalm 87,4 c).
Über allen Zweifel erhaben ist sichtbar: „Diese“ – Ägypter, Babylonier, Philister, Phönizier und Schwarzafrikaner – wurden „dort“, „auf Distanz“, das heißt, in ihren jeweiligen Ländern geboren. Sie sind „Fremdlinge“, „Ausländer“, keine Einheimischen, kein auserwähltes Volk, kein „Israel“.
„Dieser“, der „dort geboren wurde“ trägt den „Geruch“, die ganze Atmosphäre der heidnischen, vom religiös-abergläubischen Eigenwillen, der Rebellion gegen den Schöpfer geprägten Völkerwelt an sich. Der Unterschied zwischen Israel und den nichtjüdischen Völkern ist unübersehbar, nicht zu leugnen.
Doch der Midrasch Tehilim[22], auf den Radak[23] zurückgreift, überliefert eine Auslegung von Rabbi Jehuda Bar Schimon, der zu dieser Stelle unterstreicht: „In der Zukunft werden die Völker der Welt dem König Messias Geschenke bringen.“
Zukunft für Ostafrika
Wer mit der Überlieferung des Neuen Testaments vertraut ist, sieht bei diesen Worten unwillkürlich die „Weisen aus dem Morgenland“ vor sich. Von weit her – vielleicht aus Indien oder zumindest aus dem Zweistromland – waren sie einem Stern gefolgt. In Bethlehem fielen sie dann hocherfreut nieder auf die Knie. Sie beteten den neugeborenen König der Juden an und präsentierten ihm ihre Kostbarkeiten: Gold, Weihrauch und Myrrhe (Matthäus 2,1-12).
Nach Auferstehung und Himmelfahrt des Herrn war ein hochrangiger Politiker aus „Kusch“ der Erste, der darum bat, getauft zu werden (Apostelgeschichte 8,26-40).
Wenn jetzt, zu Beginn des 21. Jahrhunderts, Asiaten und Afrikaner in riesigen Reisegruppen das Heilige Land aufsuchen, gewinnt dieser Text eine eigenartige, atemberaubende Aktualität. Diesen Menschen, die „dort“ geboren wurden, sind die Jahrtausende antijüdischer christlicher Geschichte und die dazu gehörende Theologie unbekannt. Sie lesen die Bibel mit einer herrlich naiven Unmittelbarkeit. Mit großer Neugierde erkennen sie die Hand des lebendigen Gottes im aktuellen Geschehen um den modernen Staat Israel.
[1] אברהם אבן-שושן (עורך), קונקורדנציה חדשה לתורה נביאים וכתובים (ירושלים: הוצאת “קרית-ספר” בע”ם, מהדורה רביעית תשמ”ב/1982), 946.
Vergleiche Richter 3,3; Josua 13,3; 1. Samuel 6,16-17.
[2] Eine ausführliche Abhandlung zum Begriff „Peleschet“ findet sich in meinem Buch „Die Palästinenser. Volk im Brennpunkt der Geschichte“ (Holzgerlingen: SCM-Hänssler, 3. Auflage 2012) auf den Seiten 333-378 unter der Überschrift „Last, but not least: Was sagt die Bibel zur Palästinenserfrage?“
[3] Josua 19,29; 2. Samuel 24,7; oft nennt es die biblische Literatur in einem Atemzug mit dem 36 km weiter nördlich gelegenen Sidon: 1. Könige 5,20; Jesaja 23; Jeremia 25,22; 27,3; 47,4; Joel 4,4; 1. Makkabäer 5,15; Matthäus 11,21-22; 15,21; Markus 3,8; 7,31; Lukas 6,17; 10,13-14; Apostelgeschichte 12,20.
[4] Siehe Josua 19,29.35; 2. Samuel 24,7; Jesaja 23; Hesekiel 26-28; Hosea 9,13; Amos 1,10; Sacharja 9,2-3; 2. Makkabäer 4,18; Apostelgeschichte 21,3.
[5] 2. Samuel 5,11-12; 1. Könige 5,15ff; 1. Chronik 14,1; 22,4; 2. Chronik 2,2.10ff; vergleiche auch 1. Könige 7,13-14.40.45; 9,11ff; 2. Chronik 4,11.16.
[6] 1. Könige 9,11-12; 2. Chronik 8,2.
[7] 1. Könige 9,27; 10,11.22; 2. Chronik 8,18; 9,10.21.
[8] Psalm 45,13; Esra 3,7.
[9] Joel 4,4; vergleiche ebenso Sacharja 9,2-4.
[10] Jesaja 23; Jeremia 25,22; 27,3; 47,4; Hesekiel 26; 27; 28; 29,18.20; Joel 4,4; Amos 1,9-10; Sacharja 9,2ff.
[11] Jesaja 18,2.7; vergleiche Jesaja 45,14.
[12] 1. Mose 2,13; vergleiche auch Jesaja 18,1-2.7.
[13] Hesekiel 29,10; 2. Chronik 21,16; Esther 1,1; 8,9; Judith 1,9.
[14] 1. Mose 10,6.7; 1. Chronik 1,8.9.
[15] 2. Samuel 18,21-23.31-32; 2. Chronik 14,8; Psalm 7,1; Jeremia 36,14; Zefania 1,1.
[16] Hiob 28,19; Daniel 11,43.
[17] Hesekiel 38,5; Nahum 3,9.
[18] 2. Könige 19,9; Jesaja 20; 37,9; Jeremia 46,9; Nahum 3,9.
[19] 2. Chronik 12,3; 14,8-14; 16,8; Hesekiel 38,5.
[20] Jesaja 18; 20; Hesekiel 30; Zefania 2,12.
[21] Jesaja 18,7; vergleiche Zefania 3,10 und dann natürlich Jesaja 2,1-5 und Micha 4,1-5.
[22] Der Begriff „Midrasch“ (מדרש) ist abgeleitet von der hebräischen Wurzel „darasch“ (דרש), die „suchen, fragen“ bedeutet. „Midrasch“ ist also wörtlich „Forschung, Studium, Auslegung, Lehre“, wird aber hier als umfassender Begriff für die rabbinische Auslegung gebraucht, die in der Antike mündlich, später in schriftlicher Form weitergegeben wurde. Als literarisches Genre folgen die „Midraschim“ als Auslegung dem biblischen Text, während der „Talmud“ Sachfragen behandelt und dementsprechend angeordnet ist. „Midrasch Tehilim“ ist die Auslegung des Buchs der Psalmen.
[23] Rabbi David Ben Josef Kimchi (1160-1235) war der Erste unter den großen Schriftauslegern und Grammatikern der hebräischen Sprache. Er wurde im südfranzösischen Narbonne geboren. Sein Vater starb früh, so dass David von seinem Bruder Mosche Kimchi erzogen wurde. Radak erlaubte philosophische Studien nur denjenigen, deren Glaube an Gott und Furcht des Himmels gefestigt sind. Öffentlich setzte er sich mit Christen auseinander und griff vor allem deren allegorische Schriftauslegung und die theologische Behauptung an, das „wahre Israel“ zu sein.