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Im hebräischen Text von Psalm 87, schwingt neben der universalen Perspektive auch noch eine messianische Dimension mit. Deshalb habe ich in meiner Übersetzung die umständliche, nicht leicht verständliche, aber wörtliche Wiedergabe stehen lassen (Psalm 87,5a): „Ein Mann und ein Mann ist in ihr geboren.“

Mein Lehrer, der Jerusalemer Rabbi und Optiker Jaakov Joulus (1931-2011), hat immer wieder auf den Begriff איש/Isch (Mann) in den biblischen Texten hingewiesen. Meist wissen wir über so einen „Mann“ nichts, außer einer bestimmten Botschaft, die er überbringt, einer Handlung, die er vornimmt, oder einer Funktion, die er ausübt. Der Text verrät keinen Namen, nichts über sein Aussehen, nicht woher er kam – und er verschwindet wieder, sobald er seine Aufgabe erfüllt hat.

Ein „Mann“

So ein „Isch“ begegnete Abraham (1. Mose 18,2-16), Jakob (1. Mose 32,25) und Josef (1. Mose 37,15). „Wenn ein ‚Isch‘ auftritt“, erklärte mir Rabbi Joulus, „kannst du davon ausgehen, dass der Heilige, gelobt sei Er, dem Menschen in Menschengestalt entgegentritt.“ Im gleichen Atemzug unterstrich mein Rabbi dann aber regelmäßig, dass es orthodoxen Juden untersagt sei, mit Nichtjuden über den Messias zu reden.

Auf diesem Hintergrund wird klarer, weshalb der Midrasch Tehilim[1] zum אִישׁ וְאִישׁ/Isch VeIsch in Psalm 87,5 bemerkt: „Das sind die Messiasse des Herrn, der Messias Ben David und der Messias Ben Ephraim“ – ohne diesen Hinweis weiter auszuführen.

Zwei Messias-Gestalten…

Dass es in Gottes Plan mit dieser Welt zwei Messiasse geben wird, bezeugt der Prophet Sacharja (4,14). In Form von zwei Ölzweigen haben „diese beiden Söhne des frisch gepressten Öls, die vor dem Herrn der ganzen Erde stehen“ (Vers 12), ihren Weg bis ins Staatswappen des modernen Staates Israel gefunden. Dort stehen sie zur Rechten und zur Linken des siebenarmigen Leuchters, der Menorah. Ohne Öl käme die Menorah niemals zum Leuchten. „Nicht durch Heer und nicht durch Macht, sondern durch meinen Geist, spricht der Herr der Heerscharen“ (Vers 6). Dies ist das alles entscheidende Wort. Es steht geschrieben auf der überdimensionalen Menorah vor der Knesset, dem israelischen Parlament.

Nach alten jüdischen Traditionen tritt zuerst der Messias Ben Josef auf, der Gesalbte als Sohn Josefs. In unserem Midrasch wird dieser Josefssohn Ben Ephraim genannt, weil Ephraim der Sohn Josefs ist, den der sterbende Vater Jakob in die Position des Erstgeborenen erhebt (vergleiche 1. Mose 48,14.17-20).

Der Messias Ben Josef soll aus Galiläa kommen[2]. Er hat eine besondere Mission für die nichtjüdischen Völker und verliert sein Leben im Kampf gegen die Mächte, die sich gegen den einzig wahren, lebendigen Gott stark machen.[3]

Bemerkenswert ist, dass im Segen Jakobs für Ephraim (1. Mose 48,19) der Begriff „Menge der Völker“, „Vollzahl der Heiden“ (מְלֹא הַגּוֹיִם/Melo HaGojim), auftaucht. Paulus greift diesen Begriff in Römer 11,25 auf, wo es um das Zusammenspiel von gläubigen Nichtjuden und dem jüdischen Volk geht, das letztendlich zur Errettung von ganz Israel führen wird.

Dem leidenden Messias Ben Josef folgt in der jüdischen Überlieferung der herrschende Messias Ben David, der als Messias für Israel auftritt[4]. Diesem Davidssohn wird sich jedes Knie beugen. Er wird den Völkern Frieden gebieten.

…die in einer Person zusammenfließen

Nicht nur in der hier angedeuteten Beschreibung des Propheten Sacharja (9,9-10) verschwimmen die beiden Messiasse – der demütig leidende und der herrschende – in einer Person. Jüdische Menschen sprechen heute kaum, wenn überhaupt, von mehreren Messiassen. Wenn die Hoffnung auf eine künftige Heilszeit zum Ausdruck gebracht wird, redet man von „dem Messias“ oder dem (einen!) „König Messias“. Angesichts der jüdisch-christlichen Geschichte und Diskussionen wird die überwältigende Mehrheit des jüdischen Volkes bestreiten, dass der Erwartete und Kommende schon einmal da war, schon einmal gekommen ist.

Allerdings wäre ich nicht erstaunt, wenn wir eines Tages sehen werden, wie schriftkundige Juden in diesen Worten von Psalm 87 den Weg und die Geschichte des Jeschua aus Nazareth erkennen. Immerhin ist es „die Wurzel Isais“ (שֹׁרֶשׁ יִשַׁי/Schoresch Yischai) die laut Jesaja „zum Zeichen für die Völker“ (לְנֵס עַמִּים/LeNes Ammim) aufgerichtet stehen wird. Nach ihm werden die nichtjüdischen Völker fragen (Jesaja 11,10). Er ist das in Jesaja 49,22 erhobene נס/Nes, das heißt, „Zeichen“, „Feldzeichen“ oder „Banner“. Es ist dieses Nes, das Nichtjuden dazu motiviert und befähigt, den Zerstreuten Israels auf dem Rückweg in ihr Land und zu ihrem Gott zu helfen (vergleiche Jesaja 11,10-12; 49,22-23).

In wenigen, skizzenhaften Worten verschwimmen so die Bilder von der Rückkehr des Volkes Israel in das Land Israel mit der Völkerwallfahrt zum Zion. Dieses Geschehen ist auf geheimnisvolle Weise mit dem Wesen und Wirken des von Gott gesalbten Herrschers über alle Völker verwoben. Es geht um diesen Messias, den die Propheten des Volkes Israel seit langem schemenhaft als zwei Gestalten zu erkennen meinen, die zeitlich voneinander getrennt, nacheinander in der Geschichte auftreten werden: Einmal als leidender und verschmähter Gottesknecht. Und dann als herrschender König, der ungeteilte Achtung von der gesamten Schöpfung Gottes fordert.

Der Psalmist fährt fort (Psalm 87,5b): Er selbst hat sie [vor-]bereitet/gegründet,

Er, der Herr, der Höchste, hat „sie“ – Zion, und alles was mit diesem Namen, dieser Stadt, seinem Land und Volk verbunden ist – gegründet. „Gegründet“ heißt nicht nur, dass der Herr Jerusalem einmal geschaffen hat, um sie dann sich selbst zu überlassen. יְכוֹנְנֶהָ/Yekhoneneah (hat sie bereitet/gegründet) ist eine Zukunftsform mit der Bedeutung eines ständigen, anhaltenden Zustands.[5] Darauf weist Amos Chacham[6] hin.

Die Grundlage und Bestimmung Zions

Gott hält Jerusalem auf dieser Grundlage, bewahrt sie, so dass die Stadt auch dann an ihrem Ort bleibt, wenn rundum Chaos tobt (vergleiche Sacharja 12,6). Der Herr wacht darüber, dass die Ziele, die mit der Existenz des Zion gesteckt wurden, erreicht werden, dass die Stadt ihrer wahren Bestimmung treu bleibt.[7] Wie der Psalmist schreibt: „Wie wir gehört haben, so sehen wir’s in der Stadt des Herrn der Heere, in der Stadt unseres Gottes: Gott hat sie gegründet bis in Ewigkeit. Sela!“ (Psalm 48,9).

Radak[8] gibt schließlich noch zu bedenken, dass man diesen Satz auch als Gebet verstehen könnte: „Möge der Höchste diese Stadt [fest] gründen und aufrichten für viele Jahre!“

[der] Höchste/[als] Höchste.“ Stünde dieser Begriff zu Beginn der Zeile, möglichst noch mit dem bestimmten Artikel, wäre eindeutig, dass es „der Höchste“ ist, der den Zion gegründet hat. Weil עֶלְיוֹן/Elyon (Höchste) aber am Ende der Aussage platziert ist und der bestimmte Artikel fehlt, bleibt noch eine zweite Deutungsmöglichkeit. Darauf macht Mezudat David[9] aufmerksam: „Derjenige, in dessen Hand es steht, zu gründen und vorzubereiten, er hat sie bereitet, um die Höchste zu sein.“

Fußnoten:

[1] Der Begriff „Midrasch“ (מדרש) ist abgeleitet von der hebräischen Wurzel „darasch“ (דרש), die „suchen, fragen“ bedeutet. „Midrasch“ ist also wörtlich „Forschung, Studium, Auslegung, Lehre“, wird aber hier als umfassender Begriff für die rabbinische Auslegung gebraucht, die in der Antike mündlich, später in schriftlicher Form weitergegeben wurde. Als literarisches Genre folgen die „Midraschim“ als Auslegung dem biblischen Text, während der „Talmud“ Sachfragen behandelt und dementsprechend angeordnet ist. Der „Midrasch Tehilim“ ist die Auslegung des Buchs der Psalmen.

[2] Vergleiche etwa die Belege, die Hermann L. Strack und Paul Billerbeck, Das Evangelium nach Matthäus erläutert aus Talmud und Midrasch. Kommentar zum Neuen Testament aus Talmud und Midrasch, Band 1 (München: C.H. Beck’sche Verlagsbuchhandlung, 9. Auflage 1986) auf den Seiten 161 und 952 anführen.

[3] Gerald J. Blidstein, “Messiah,” in Encyclopaedia Judaica Volume 11 (LEK-MIL) (Jerusalem: Keter Publishing House Jerusalem Ltd.): Spalte 1411.

[4] Dieser Gegensatz zwischen Messias Ben Josef (für die Völker) und Messias Ben David (für Israel) kommt auch im pseudapokryphen 3. Henoch 45,5 zum Ausdruck.

[5] עמוס חכם, ספר תהלים, ספרים ג-ה, מזמורים עג-קן (ירושלים: הוצאת מוסד הרב קוק, הדפסה שישית תש”ן/1990), קכו.

[6] 1921-2012, wurde in Israel bekannt als Gewinner des ersten israelischen und weltweiten Bibelquiz. Sein behinderter Vater, Noach Chacham, war ein jüdischer Bibellehrer, der 1913 von Wien nach Jerusalem übergesiedelt war. Er hatte den einzigen Sohn aus Angst vor einem Sprachfehler nicht an eine öffentliche Schule geschickt, sondern in äußerst ärmlichen Verhältnissen selbst ausgebildet. Das Bibelquiz im August 1958 offenbarte sein Genie und begründete seine legendäre Laufbahn als Schriftausleger. Seine Auslegungen liegen mir nur in hebräischer Sprache vor.

[7] Vergleiche Samson Raphael Hirsch, Psalmen (Basel: Verlag Morascha, 2. Neubearbeitete Auflage 2005), 465.

[8] Rabbi David Ben Josef Kimchi (1160-1235) war der Erste unter den großen Schriftauslegern und Grammatikern der hebräischen Sprache. Er wurde im südfranzösischen Narbonne geboren. Sein Vater starb früh, so dass David von seinem Bruder Mosche Kimchi erzogen wurde. Radak erlaubte philosophische Studien nur denjenigen, deren Glaube an Gott und Furcht des Himmels gefestigt sind. Öffentlich setzte er sich mit Christen auseinander und griff vor allem deren allegorische Schriftauslegung und die theologische Behauptung an, das „wahre Israel“ zu sein.

[9] Ein Bibelkommentar von David Altschuler, der im 18. Jahrhundert in Jaworow in Galizien lebte. Während seine Auslegung Mezudat Zion einzelne Worte erklärt, beleuchtet Mezudat David die Bedeutung des Texts.

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By Published On: April 16, 20217,4 min read

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