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Eigentlich ist Psalm 2 furchterregend und schrecklich. Aber er schließt mit der Feststellung: „Glücklich sind alle, die bei ihm ihre Zuflucht suchen!“ (Vers 12e). Martin Luther bezeichnet dieses „Summa Summarum“ von Ps 2 als eine „überaus schönen Summa“.[1]

In seiner Auslegung von Ps 2 auf den Christus Jesus schreibt der Reformator: „Denn darum hat er gelitten, darum ist er auferstanden, darum ist er zum König eingesetzt, darum hat er alles zum Erbe empfangen, daß er alle selig machen könne, die auf ihn trauen.“[2] Dem wäre aus christlicher Sicht eigentlich nichts hinzuzufügen, wenn da nicht eine verhängnisvolle Auslegungstradition wäre, die alles Jüdische und jeden Bezug zum Land Israel auslöscht.

Denn auch hier darf die Botschaft von Ps 2 nicht eindimensional gesehen werden, wie christliche Auslegung das traditionell oft getan hat. Alle Auslegungsebenen von Ps 2 sollten im Blick bleiben. Der Christus darf nicht herausgelöst werden aus seinem nationalen Zusammenhang. Nicht ohne Grund betont Jesus: „Das Heil kommt von den Juden“ (Joh 4,22).

Und das Heilshandeln Gottes kann nicht losgelöst werden, von seinem geografischen Kontext, vom Land Israel, von der Stadt Jerusalem. Wenn Paulus in Röm 10,13 erklärt, dass nur derjenige gerettet wird, der „den Namen des Herrn anrufen wird“, dann ist klar, dass der Apostel den Propheten Joel zitiert, der im selben Atemzug fortfährt: „Denn auf dem Berg Zion und in Jerusalem wird Zuflucht sein“ (Joel 3,5).

So wie sich das Toben der Völker gegen Jerusalem, gegen das Land Israel, gegen die Zionssehnsucht derer, die im Wort Gottes verwurzelt sind, das heißt, gegen den Herrn und seinen Messias richtet, genauso ist das Handeln Gottes durch den Messias verbunden mit dem Volk und dem Land Israel, dessen Herz die Stadt Jerusalem ist. Das sollte der, der sich „in ihm bergen möchte“, im Auge behalten.

Luther findet schließlich noch einen Zusammenhang zwischen dem Schrecklichen und der Geborgenheit, die im Schlusswort von Ps 2 zum Ausdruck kommt: „Denn darum schreckt sein Zorn, damit er euch zum Vertrauen auf ihn dringe. Amen.“[3] „Es gibt keine Zuflucht vor ihm“, bringt der britische Exeget Derek Kidner trefflich die Aussage des letzten Satzes von Ps 2 auf den Punkt, „nur Zuflucht in ihm.“[4]

Samson Raphael Hirsch[5] stellt eine Verbindung des hebräischen Wortstamms „חסה/chasah“ (= sich bergen, Zuflucht suchen) mit „dem gesteigerten“ „חזה/chazah“ (= sehen, schauen) her und kommt zu dem Schluss: Bei diesem „Zuflucht suchen“ gehe es um „das innigste, erwartungsvollste Hinschauen auf etwas“.[6]

Konkret: Wer sich in Gott birgt, wer in ihm seine Zuflucht sucht, hat ständig Gott und sein Handeln vor Augen. Das geschieht nicht automatisch. Die Versuchung ist groß, die Aufmerksamkeit von der Realität, die uns umgibt, gefangen nehmen zu lassen. Doch wer seinen Blick vom Herrn und seinem Messias abwendet und sich auch nur einen kurzen Augenblick vom „starken Wind“, vom Toben des Sturms gefangen nehmen lässt, wird wie einst Petrus anfangen zu sinken (vergleiche Mt 14,22-33).

Amos Chacham[7] meint mit Verweis auf den Propheten Hosea (14,8), diejenigen, die sich in Gott bergen, die bei ihm ihre Zuflucht suchen, seien „die in seinem Schatten sitzen“.[8] Damit führt der israelische Schriftausleger unversehens zu Psalm 91, der das Gebet eines Menschen beschreibt, der in einer sehr herausfordernden Umgebung „im Schatten des Höchsten“ sitzt.

Der Gegensatz zu denen, die bei Gott ihre Zuflucht suchen, ist der Mann, der seine Sicherheit bei Menschen sucht. Der lebendige Gott bezeichnet so einen Menschen als „verflucht“ (Jer 17,5a).

Jer 17,5-8 ist ein Paralleltext zu Ps 1, sowohl inhaltlich, als auch von den Vergleichen und Bildern, die zur Anwendung kommen. Die Assoziation mit dem Text Jeremias unterstreicht die Rückverbindung zu dem Psalm, der Ps 2 unmittelbar vorangeht. Sie bestätigt eine Beobachtung, die spätestens mit dem Gebrauch des Wörtchens „אַשְׁרֵי/aschrei“ (= glücklich, selig) in der letzten Aussage von Ps 2 unvermeidbar geworden ist.

Der Rückverweis auf Psalm 1

Die rabbinischen Schriftausleger haben früh entdeckt, dass sich das Wort „אַשְׁרֵי/aschrei“ wie eine Klammer um die Psalmen 1 und 2 legt. Der Babylonische Talmud überliefert im Traktat Berachot 10a einen Ausspruch von „Rabbi Schmuel Bar Nachmani im Namen von Rabbi Jochanan: Jeder Schriftabschnitt, den David besonders liebte begann mit ‚אַשְׁרֵי/aschrei‘ (= glücklich ist) und endete mit ‚אַשְׁרֵי/aschrei‘ (= glücklich ist). Er begann mit ‚אַשְׁרֵי/aschrei‘, wie geschrieben steht [am Anfang von Ps 1]: ‚Glücklich ist der Mann…‘ und endete mit ‚אַשְׁרֵי/aschrei‘, wie geschrieben steht [am Ende von Ps 2]: ‚Glücklich ist jeder, der in ihm seine Zuflucht sucht‘.“

Die beiden ersten Kapitel des Psalters sind darüber hinaus inhaltlich und sprachlich durch viele Klammern miteinander verbunden. Chacham beobachtet: Wie „in Ps 1 die Bösen und der Gerechte einander gegenüber stehen“, so treten in Ps 2 „die bösen Nationen dem Herrn und seinem Messias entgegen“.[9]

Sprachliche Bezüge werden oft nur im hebräischen Original sichtbar. So „murmeln“ die Heiden in Ps 2,1 vergeblich, wie zuvor der Gerechte in Ps 1,2 Tag und Nacht über der Thora „gemurmelt“ hatte. Oder wenn in Ps 2,12 gewarnt wird „damit ihr nicht vergeht“, ist das ein direkter Anschluss an die Feststellung in Ps 1,6: „Der Weg des Bösen vergeht.“

An manchen Stellen fallen die Gegensätze ins Auge, die einander sprachlich wie inhaltlich direkt gegenüberstehen. So ist die Anstrengung der Völker in Ps 2,1 „unsinnig“, „versagend“, „ins Leere hinein“, während der Gerechte in Ps 1 in „allem erfolgreich sein wird“ (Vers 3).

Die Verbindung zwischen den beiden ersten Kapiteln des Psalmbuches wird von jüdischen Auslegern als so eng empfunden, dass sie gar behaupteten, sie seien ursprünglich ein einziges Kapitel gewesen.[10] Derek Kidner beobachtet, dass Ps 2 eine Überschrift fehlt, die bei vielen anderen Kapiteln des Psalmbuches üblich ist. Zudem gibt es einige antike Handschriften, die beide Psalmen als ein Kapitel behandeln.[11] Allerdings redet schon Paulus in der Synagoge in Antiochien in Pisidien bei einem Zitat unseres Psalms vom „zweiten Psalm“ (Apg 13,33).[12]

Aus dem, was Ps 1 „für das Einzelleben zum Ausdruck“ bringt, zieht Ps 2 „die Konsequenz für das Völkerleben und die Gesamtzukunft“.[13] Wo uns im ersten Psalm ein einzelner Mann begegnet, ein Individuum mit einer bestimmten Einstellung, die zu seinem Lebensstil wird, beschreibt der zweite Psalm die weltweite Perspektive, in der sich der Einzelne zu bewähren hat. Ps 2 hat einen weiten prophetischen Horizont, während sich Ps 1 auf das Verhalten des Individuums, die Ethik konzentriert.

Wenn wir wissen wollen, wie sich ein Einzelner im globalen Chaos, das Ps 2 beschreibt, verhalten soll; wenn wir wissen wollen, wie das konkret aussieht, sich „in ihm zu bergen“ oder „im Schatten des Allmächtigen zu sitzen“, dann müssen wir Ps 1 betrachten.

Fußnoten:

[1] Johann Georg Walch (hg.), Dr. Martin Luthers Sämtliche Schriften. Vierter Band. Auslegung des Alten Testaments (Fortsetzung). Auslegung über die Psalmen (Groß Oesingen: Verlag der Lutherischen Buchhandlung Heinrich Harms, 2. Auflage, 1880-1910), 299.

[2] Johann Georg Walch (hg.), Dr. Martin Luthers Sämtliche Schriften. Vierter Band. Auslegung des Alten Testaments (Fortsetzung). Auslegung über die Psalmen (Groß Oesingen: Verlag der Lutherischen Buchhandlung Heinrich Harms, 2. Auflage, 1880-1910), 299.

[3] Johann Georg Walch (hg.), Dr. Martin Luthers Sämtliche Schriften. Vierter Band. Auslegung des Alten Testaments (Fortsetzung). Auslegung über die Psalmen (Groß Oesingen: Verlag der Lutherischen Buchhandlung Heinrich Harms, 2. Auflage, 1880-1910), 301.

[4] Derek Kidner, Psalms 1-72. An Introduction & Commentary, TOTC (Leicester/England and Downers Grove, Illinois/USA: Inter-Varsity, 1973), 53.

[5] Samson Raphael Hirsch (1808-1888) stammte aus Hamburg und diente als Oberrabbiner in Oldenburg, Aurich, Osnabrück, in Mähren und Österreichisch-Schlesien. Als profilierter Vertreter der Orthodoxie war er ein ausgesprochener Gegner des Reform- und konservativen Judentums. Hirsch legte großen Wert auf das Studium der gesamten Heiligen Schrift. Ab 1851 war er Rabbiner der separatistischen orthodoxen „Israelitischen Religions-Gesellschaft“, engagierte sich im Bildungsbereich und veröffentlichte das Monatsmagazin „Jeschurun“. Hirsch hatte eine große Liebe zum Land Israel, war gleichzeitig aber ein Gegner der proto-zionistischen Aktivitäten von Zvi Hirsch Kalischer. Er wird als einer der Gründungsväter der neo-orthodoxen Bewegung gesehen.

[6] Samson Raphael Hirsch, Psalmen (Basel: Verlag Morascha, 2. Neubearbeitete Auflage 2005), 12.

[7] Amos Chacham (1921-2012) wurde in Israel bekannt als Gewinner des ersten israelischen und weltweiten Bibelquiz. Sein behinderter Vater, Noach Chacham, war ein jüdischer Bibellehrer, der 1913 von Wien nach Jerusalem übergesiedelt war. Er hatte den einzigen Sohn aus Angst vor einem Sprachfehler nicht an eine öffentliche Schule geschickt, sondern in äußerst ärmlichen Verhältnissen selbst ausgebildet. Das Bibelquiz im August 1958 offenbarte sein Genie und begründete seine legendäre Laufbahn als Schriftausleger.

[8] עמוס חכם, ספר תהלים, ספרים א-ב, מזמורים א-עב (ירושלים: הוצאת מוסד הרב קוק, הדפסה שביעית תש”ן/1990), ט.

[9] עמוס חכם, ספר תהלים, ספרים א-ב, מזמורים א-עב (ירושלים: הוצאת מוסד הרב קוק, הדפסה שביעית תש”ן/1990), י.

[10] עמוס חכם, ספר תהלים, ספרים א-ב, מזמורים א-עב (ירושלים: הוצאת מוסד הרב קוק, הדפסה שביעית תש”ן/1990), ג, י,

mit Verweis auf Berachot 9b und 10a.

[11] Derek Kidner, Psalms 1-72. An Introduction & Commentary, TOTC (Leicester/England and Downers Grove, Illinois/USA: Inter-Varsity, 1973), 50 n. 1.

[12] C.F. Keil and F. Delitzsch, Psalms 1-35, Commentary on the Old Testament vol.5/1. Translated by Francis Bolton (Peabody, Massachusetts/USA: Hendrickson Publishers, February 1989), 82. Derek Kidner, Psalms 1-72. An Introduction & Commentary, TOTC (Leicester/England and Downers Grove, Illinois/USA: Inter-Varsity, 1973), 49-50.

[13] Samson Raphael Hirsch, Psalmen (Basel: Verlag Morascha, 2. Neubearbeitete Auflage 2005), 6.

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By Published On: Dezember 31, 20177,5 min read
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