Teile diese Geschichte auf deiner Plattform!

In unserem Nachdenken über eine angemessene biblische Hermeneutik haben wir im ersten Artikel dieser Serie[1] die Entscheidung getroffen, dass nicht ein theologisches oder philosophisches Lehrsystem unser Bibellesen bestimmen soll, sondern umgekehrt jede Lehre sich an der Bibel messen lassen muss. Jedes menschliche Gedankengebäude hat sich dem Maßstab des biblischen Wortes zu stellen.

In einem zweiten Schritt haben wir uns dann vor Augen führen lassen, dass das- oder derjenige „Gott“ in unserem Leben ist, der das letzte Wort hat. Ganz persönlich habe ich für mich die Entscheidung getroffen, dass der Gott Israels, der Vater unseres Herrn Jesus Christus, das Sagen in meinem Leben haben soll. Mit Josua möchte ich im Blick auf die „Götteroptionen“ dieser Welt bekennen: „Ich aber und mein Haus wollen dem Herrn dienen“ (Josua 24,15).

Diese beiden Entscheidungen sind nicht abgehakt durch ein einmaliges, vollmundiges Statement. Sie sind ein Weg, auf den wir uns einlassen, Grundsatzentscheidungen, auf die wir uns ansprechen lassen und an die wir uns gegenseitig erinnern wollen. Das sind Maßstäbe, die uns zur Rechenschaft herausfordern.

Die großen Linien

Eine weitere Vorentscheidung ist, dass der Gesamtzusammenhang der biblischen Offenbarung entscheidend ist für die Einordnung von Einzelaussagen der Heiligen Schrift. Gleicherweise ist der unmittelbare Textzusammenhang entscheidend für die Bedeutung einer Einzelaussage. Wer ein Argument führt aufgrund von vielen aus ihrem unmittelbaren Textzusammenhang herausgerissenen Schriftzitaten, muss sich die Frage gefallen lassen, woher er das Gesamtbild bezieht, in das er die einzelnen Puzzleteile einordnet.

Wenn wir die großen Linien, die unser Denken bestimmen, ausformulieren und den Gedankengebäuden von Andersdenkenden gegenüberstellen, wird meistens schnell klar, wo philosophisch begründete Ideologien die Stellung von „Gott“ in unserem Denken übernommen haben – oder ob wir tatsächlich unser Denken vom Wort Gottes prägen lassen. Auch das ist eine Sache, die nicht einmalig abgehakt werden kann, sondern ein ständiges Kauen des biblischen Wortes, Nachdenken, Gemeinschaft, Austausch, ein Sich-Hinterfragen-Lassen voraussetzt. Auch das ist ein Weg.

Ein Auftrag

Bei der Frage nach den großen Linien sehen wir: Der Schöpfer hat den Menschen „in Seinem Bild“, „entsprechend Seiner Ähnlichkeit“ (1. Mose 1,26.27) oder auch „in Seiner Ähnlichkeit“, „entsprechend Seinem Bild (1. Mose 5,1.3) geschaffen.

Darin liegt ein Auftrag begründet.[2] Weil der Schöpfer Liebe ist (1. Johannes 4,16), will Er vom Menschen geliebt werden.[3] Liebe aber setzt Freiheit, eine Entscheidung, eine Exklusivität, einen Willen zur Beziehung voraus – und zwar gegen alle Widerstände. Dass wir uns genau das für unsere engsten Beziehungen im zwischenmenschlichen Bereich wünschen, ist Teil unserer Gottähnlichkeit. Dieses menschliche Verlangen ist ein Fingerzeig auf das Wesen des Schöpfers.

Deshalb hält der Schöpfer unmittelbar mit Vollendung der Schöpfung inne. Er ruht „von all Seiner Arbeit, die Er zu dem Zweck geschaffen hatte, dass sie gemacht“ würde (1. Mose 2,3b). Im Gegensatz zu allen anderen Schöpfungstagen ist der siebte Tag bis heute nicht abgeschlossen, etwa durch ein „und es ward Abend und es war Morgen ein siebter Tag“.

Die Schöpfung wartet darauf, „gemacht“ zu werden – und zwar von uns. Das ist unser Auftrag bis zum heutigen Tag. Ein kurzer Blick auf die ersten Kapitel der Bibel erinnert uns daran, dass wir Menschen dazu geschaffen wurden, um diese Schöpfung zu verwalten. Deshalb sollen wir fruchtbar sein, uns vermehren, das Land füllen und in Besitz nehmen.[4] Und deshalb gilt – wie der Apostel Paulus schreibt – die sehnsüchtige Erwartung der Schöpfung dem Offenbarwerden der Söhne des einen, wahren, lebendigen Gottes (Römer 8,19).

Zimzum HaSchem

Der Schöpfer ruht am siebten Tag. Ganz bewusst nimmt sich der eine, wahre, lebendige Gott zurück – nicht, weil Er die Menschen sich selbst überlassen will; nicht, weil Ihm Seine Schöpfung plötzlich über den Kopf gewachsen oder gar egal wäre; sondern ganz einfach, weil Er will, dass wir lernen, Verantwortung zu übernehmen, Entscheidungen zu treffen, dass wir herrschen und aufbauen und gestalten, das heißt „machen“. Der Schöpfer will, dass wir immer mehr Sein Ebenbild werden. Und vor und über allem anderen, noch einmal dick unterstrichen: Der lebendige Gott will von uns Menschen geliebt werden – als Antwort auf Seine Liebe; weil Er uns zuerst geliebt hat (1. Johannes 4,19).

Dieses „Sich-Zurücknehmen“, dieses „Sich-Selbst-Konzentrieren“ Gottes, um Seinen Geschöpfen Raum zu geben, sich zu entfalten und ihren Auftrag wahrnehmen zu können, nennt die jüdische Tradition „Zimzum HaSchem“ (צמצום ה‘): Rückzug, Zurücknahme, (Selbst-)Beschränkung oder Einschränkung des Herrn. Dadurch schafft der Vater im Himmel Raum für uns. Er gibt uns die Freiheit dafür, dass wir überhaupt existieren, vor allem aber auch wachsen und unseren Auftrag wahrnehmen können.

Würde Er sich nicht zurücknehmen, Sein Wesen nicht einschränken, würde uns das Gewicht, die Dichte, die Intensität Seiner Herrlichkeitsgegenwart schlicht erdrücken, einfach wegblasen. Wir hätten weniger Existenzchancen in Seiner Gegenwart als ein Tropfen Wasser auf einer glühend heißen Herdplatte.

Wenn Menschen dem lebendigen Gott begegnen, ist entscheidend, dass sie sich dieses Unterschieds bewusst sind. Deshalb mussten Mose (2. Mose 3,5) und Josua (Josua 5,15) ihre Schuhe ausziehen. Das wurde in Worte formuliert, wenn die Begegnungen Moses (2. Mose 33,18-23) oder Elias (1. Könige 19,11-13) am Horeb beschrieben werden. Deshalb tragen Juden, die sich der Gnade des „Zimzum HaSchem“ bewusst sind, eine Kopfbedeckung.

Auf der anderen Seite hatte dieses „Sich-Zurückziehen Gottes“ zur Zeit des Propheten Hesekiel die Folge, dass sogar die Ältesten im Haus Israel die Illusion pflegen konnten: „Der Herr sieht uns nicht, der Herr hat das Land – הָאָרֶץ/HaAretz – „die Erde“!? – verlassen“.[5]

Im Lauf der Geschichte hat das Phänomen des „Zimzum HaSchem“ ganz unterschiedliche Symptome gezeugt. Erst kürzlich schrieb mir ein befreundeter Geistlicher, er habe „im Deutschen Pfarrerblatt mehrfach Artikel gelesen, die die Meinung vertreten, man könne in unserer modernen Zeit nicht mehr von einem persönlichen Gott reden.“ Bemerkenswert ist, dass es heute manchmal die intelligentesten Menschen sind, die der Illusion frönen, es gäbe gar keinen Gott. König David hatte solche Menschen noch schlicht als töricht bezeichnet und festgestellt, dass in ihrem Denken und Tun etwas korrumpiert worden sein muss (Psalm 53,2).

Wenn der Herr der Herren zum Sklaven wird

Im den ersten Versen des zweiten Kapitels seines Briefes an die Gemeinde in Philippi beschreibt Paulus den positiven Aspekt dieses Phänomens, dass der lebendige Gott sich selbst zurücknimmt. Das ist eine Haltung, die sich im Messias Jeschua widerspiegelt. Das ist eine Einstellung, die wir selbst nachahmen sollen. Diese Selbstzurücknahme bis hin zur Selbstaufgabe soll ein Teil unseres Wesens werden.

Der Prophet Hesekiel beschreibt eine andere, eher negative Seite des Phänomens, dass der lebendige Gottes Seine Gegenwart zurücknimmt. Durch den „Zimzum HaSchem“ wird es möglich, dass der Name Gottes entheiligt wird in Israel selbst, dann aber auch durch Israel und dadurch vor den Völkern. Weil das Volk Gottes verlernt hat zu beten „Dein Name werde geheiligt“ und sich dafür auch mit seiner ganzen Existenz einzusetzen, muss Gott in Aussicht stellen, dass Er selbst der Entheiligung Seines Namens Einhalt gebieten und Seinen Namen wieder heiligen werde.[6]

Der eine, wahre, lebendige Gott, der selbst das absolute Licht ist (1. Johannes 1,5), „formt das Licht wie ein Töpfer den Ton und schafft Finsternis“, indem Er sich zurückzieht (Jesaja 45,7). Gleichermaßen „macht Er Frieden und schafft Böses“ indem Er Seine eigentlich überwältigende Gegenwart eingrenzt und sich selbst zurücknimmt.

Schlimmer als die Hölle

Am Weitesten zieht sich Gott zurück, wenn Er Sein Angesicht verbirgt. Die Rede vom הסתר פנים/Hester Panim (Verbergen des Angesichts) Gottes zieht sich durch die gesamte Heilige Schrift hindurch. Israel hat das in seiner Geschichte immer wieder auf schreckliche Weise erfahren müssen.

Wenn Gott Sein Angesicht verbirgt, ist das schlimmer als jedes vorstellbare Gericht. Es ist die schlimmste Hölle, wenn Gott Menschen „dahin gibt“ (Römer 1,24.26.28), sie einfach laufen und damit sich selbst überlässt. Deshalb bittet das Volk Gottes inständig: „Lass Dein Angesicht leuchten über uns!“[7]

Diese Beobachtung, dass der Schöpfer sich seit Beginn des 7. Schöpfungstages immer weiter aus Seiner Schöpfung zurückzieht, um uns Menschen zu ermöglichen, als Sein Ebenbild Verantwortung zu übernehmen, hat grundlegende Auswirkungen auf unser Offenbarungsverständnis und damit auf unser Bibellesen.

 

Fußnoten:

[1] Die gesamte Serie finden Sie auf unserer Webseite https://gerloff.co.il unter (ganz oben im Menü) „Artikel“ – und wenn Sie dann über den Bildern, die einzelne Artikel illustrieren, auf die Kategorie „Hermeneutik“ klicken. Nach der einladenden Einleitung (https://gerloff.co.il/einladung/) ist der erste Artikel also https://gerloff.co.il/nachfolge/.

[2] 1. Mose 1,26.28; Epheser 4,24; Kolosser 3,10.

[3] 5. Mose 6,5; Matthäus 22,37; Lukas 10,27.

[4] Siehe 1. Mose 1,26.28; 9,1.7; aber auch Psalm 8,5-9.

[5] Hesekiel 8,12; ebenso Hesekiel 9,9.

[6] Siehe dieses Motif zum Beispiel in Hesekiel 20.

[7] Psalm 4,7; 4. Mose 6,24-27.

Der Autor

By Published On: März 30, 20257,2 min read
Bitte informieren Sie mich über neue Artikel