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Eigentlich ist die Bibel spannend, packend, und vor allem hoch aktuell. Probleme bereitet uns, dass die biblischen Texte uralt und vielschichtig sind. Das zweite Kapitel im Buch der Psalmen ist ein hervorragendes Beispiel dafür.

Selbstverständlich interessiert uns, was ein Text „mir ganz persönlich“ zu sagen hat. Und die Bibel holt uns sehr oft genau da ab. Sie will in unser Leben hineinsprechen, so dass wir es nach dem Wort Gottes ausrichten können.

Dann gibt es in der Bibel oft noch eine weitere Perspektive: Der Blickwinkel wird ausgeweitet. Die gesamte Völkerwelt kommt ins Visier. Psalm 2 eröffnet uns einen atemberaubend weiten Horizont.

Sowohl im Blick auf die persönliche Komponente der biblischen Texte, als auch im Blick auf die nationale oder gar internationale Ebene, können wir vieles empirisch überprüfen. Das biblische Wort spricht uns an, weil wir genauso empfinden, dieselben Erfahrungen machen, die gleichen Ängste haben, von denselben Hoffnungen getrieben werden.

Die Bibel hört aber mit dem, was wir mit unseren Sinnen wahrnehmen, mit unserem Verstand begreifen können, nicht auf. Sie eröffnet uns darüber hinaus noch einen Blick auf die Sichtweise Gottes.

Es ist entscheidend, dass wir diese unterschiedlichen Perspektiven im Blick behalten und, um Missverständnisse zu vermeiden, von einander unterschieden wahrnehmen. Nicht alles, was die Heilige Schrift sagt, ist automatisch direkte Rede Gottes, von Gott so gewollt oder bestimmt. Nicht selten beschreibt sie uns, was Menschen denken, wollen, tun – auch wenn dieses Geschehen gegen den Willen Gottes rebelliert.

In Psalm 2 gehen diese unterschiedlichen Ebenen ganz unvermittelt in einander über. Die Verse 1 und 2 beschreiben eine Weltlage, die jeder, der offene Augen und einen wachen Verstand hat, wahrnehmen kann – wobei der Psalmbeter schon ganz sanft seine Beurteilung einfließen lässt.

Vers 3 zitiert die Meinung der Politiker, während Vers 4 uns eine himmlische Perspektive vermittelt, die niemand mit natürlichen Augen wahrnehmen kann. Die Verse 5 bis 9 ermöglichen einen Blick in die Zukunft, in das Denken, Fühlen und Handeln Gottes.

Die drei letzten Verse beschließen den Psalm mit einem Appell. Der Psalmbeter offenbart sich darin als keineswegs objektiver Zuschauer, sondern als jemand, der um das Wohl der Menschen, deren Situation er beschreibt, zittert.

Der historische Hintergrund von Psalm 2

Bevor wir in den Text von Psalm 2 einsteigen, muss noch eine zweite Beobachtung erwähnt werden. Biblische Texte machen uns, schon von der hebräischen Sprache her, eine zeitliche Einordnung nur selten wirklich einfach. Das Hebräisch der Bibel unterscheidet nicht so stringent, wie wir das gerne hätten, zwischen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft.

Gerade bei poetischen und prophetischen Texten fließen unterschiedliche Zeitebenen manchmal ohne scharfe Trennung ineinander über. Das biblische Hebräisch unterscheidet weniger zwischen dem was war, dem was ist und dem was kommt. Vielmehr bezeichnen die Verbformen etwas fest Abgeschlossenes oder Beschlossenes (Perfekt) und unterscheiden dies von etwas, das in Entwicklung ist, wächst oder erst künftig seinen Abschluss findet (Imperfekt). Dabei kommt es dann nicht selten vor, dass etwas in der Zukunft abgeschlossen ist, oder sich in der Vergangenheit unabgeschlossen entwickelt. Die rabbinischen Ausleger bemerken dann einfach, das sei eine Zukunftsform (Imperfekt), die für die Vergangenheit gilt, oder eine Vergangenheitsform (Perfekt), die für die Zukunft gilt. So kann der biblische Text bruchlos aus einer historischen Situation heraus Aussagen über die Zukunft machen und dabei auch noch Anweisungen vermitteln, die für die Gegenwart gelten.

Psalm 2 kann auf fünf Ebenen verstanden werden. Das Neue Testament betrachtet König David als Verfasser des Psalms (Apg 4,25). Die rabbinische Tradition sieht als Hintergrund die Thronbesteigung Davids, die die Philister zu verhindern suchten (vgl. 2. Sam 5,17).

Der moderne orthodox-jüdische Schriftausleger Amos Chacham[1] verweist auf eine exegetische Tradition, die hinter Ps 2 eine antike Krönungszeremonie vermutet, in deren Verlauf Gott den judäischen König als Sohn adoptiert.

Eine dritte Auslegungsebene zeigt uns das Neue Testament, in dem Ps 2 der am meisten zitierte Psalm ist. Der „Sohn“[2], der „Messias“ (Ps 2,2; Joh 1,41), das heißt, der gesalbte Gottesknecht (Apg 4,27.30) und König aus der Dynastie Davids (Ps 2,6; Joh 1,49) ist Jesus aus Nazareth. Der Psalm beschreibt sein Leiden und seine Auferstehung. Die tobenden Völker (Ps 2,1) sind „Herodes und Pontius Pilatus mit den Heiden und den Stämmen Israels“[3].

Die Offenbarung des Johannes baut konsequent auf dieser Perspektive auf und eröffnet in Kapitel 2, Vers 26f. eine vierte Auslegungsebene. Dort gibt der erhöhte Messias dem, „der überwindet“ und „meine Werke bis ans Ende bewahrt“ „Vollmacht über die Völker“. Er sagt voraus, dass der treue Christusnachfolger die Nationen „mit eisernem Stabe weiden“ und „wie Keramik zerschmettern wird“. Das ist unverkennbar ein Bezug auf Ps 2,8f., der hier auf den einzelnen Gläubigen angewandt wird.

Eine fünfte Verstehensebene des Ps 2 ist schließlich die, die heute vielleicht am ehesten ins Auge fällt, wenn man Bibel und Zeitung nebeneinander liest. Bereits die alten Midraschim[4] sehen im zweiten Kapitel des Psalmbuches den messianischen König der Endzeit, der im „Krieg von Gog und Magog“ die Rebellion der Völker niederschlägt und Israel die endgültige Erlösung bringt. Chacham beobachtet: Der prophetische Psalmbeter „sagt die Worte, als würden sie in der Gegenwart vor unseren Augen geschehen“[5]. Ps 2,2 ist übrigens die einzige Stelle in der hebräischen Bibel, in der der Titel „Messias“ für einen künftigen König, der in der Endzeit aufstehen und Erlösung bringen wird, Verwendung findet.[6]

Diese unterschiedlichen Auslegungsebenen schließen einander nicht aus. Vielmehr ergänzen sie einander. Keine einzige dieser fünf Perspektiven kann alle Aussagen dieses Psalms fassen. Erst miteinander und ineinander ergeben sie das vollkommene Bild, das der prophetische Psalmbeter getrieben „durch den Heiligen Geist“ (Apg 4,25) zeichnet.

Fußnoten:

[1] Amos Chacham (1921-2012) wurde in Israel bekannt als Gewinner des ersten israelischen und weltweiten Bibelquiz. Sein behinderter Vater, Noach Chacham, war ein jüdischer Bibellehrer, der 1913 von Wien nach Jerusalem übergesiedelt war. Er hatte den einzigen Sohn aus Angst vor einem Sprachfehler nicht an eine öffentliche Schule geschickt, sondern in äußerst ärmlichen Verhältnissen selbst ausgebildet. Das Bibelquiz im August 1958 offenbarte sein Genie und begründete seine legendäre Laufbahn als Schriftausleger. Seine Auslegungen liegen mir nur in hebräischer Sprache vor.

עמוס חכם, ספר תהלים, ספרים א-ב, מזמורים א-עב (ירושלים: הוצאת מוסד הרב קוק, הדפסה שביעית תש“ן/1990), ט-י הע‘ 16.

[2] Ps 2,7.12; Mt 3,17/Lk 3,22; Mt 4,3; Joh 1,49; Apg 13,33.

[3] Apg 4,27; vgl. weiter Apg 13,13ff; Hebr 1,2.5; 5,5 und Offb 12,5; 19,15.

[4] Der Begriff „Midrasch“ (מדרש) ist abgeleitet von der hebräischen Wurzel „darasch“ (דרש), die „suchen, fragen“ bedeutet. „Midrasch“ ist also wörtlich „Forschung, Studium, Auslegung, Lehre“, wird aber hier als umfassender Begriff für die rabbinische Auslegung gebraucht, die in der Antike mündlich, später in schriftlicher Form weitergegeben wurde. Als literarisches Genre folgen die „Midraschim“ als Auslegung dem biblischen Text, während der „Talmud“ Sachfragen behandelt und dementsprechend angeordnet ist.

[5] עמוס חכם, ספר תהלים, ספרים א-ב, מזמורים א-עב (ירושלים: הוצאת מוסד הרב קוק, הדפסה שביעית תש“ן/1990), ט.

[6] עמוס חכם, ספר תהלים, ספרים ג-ה, מזמורים עג-קן (ירושלים: הוצאת מוסד הרב קוק, הדפסה שישית תש“ן/1990), ו הע‘ 3.

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By Published On: Januar 17, 20175,8 min read
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