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Liebe Leser,
zeitgleich mit Ostern hat das jüdische Volk in diesem Jahr das Passafest gefeiert. Wer in der Zeit vor den Festen in die Radiosendungen Israels hinein hört, muss feststellen, dass Israel nur oberflächlich betrachtet ein Volk wie jedes andere ist. Tatsächlich ist das jüdische Volk untrennbar mit der biblischen Tradition verwoben.
In der Sprache der alten Propheten diskutieren Israelis ganz unterschiedlicher Couleur live über den Äther Hintergründe und Bedeutung des Passafests: Was bedeutet versklavt zu sein? Wessen Sklave sind wir, wenn wir uns über Arbeit, Leistung, Gesundheit oder Schönheit definieren – und ein Leben ohne Computer und Hi-Tech gar nicht mehr vorstellen können?
Unterbrochen von den immer kritisch stichelnden Rückfragen der Rundfunkredakteure entwickeln säkulare und religiöse, orientalische und europäische, alteingesessene und neu eingewanderte Israelis in schnoddrigem Slang oder mit schwerem russischem Akzent ihre persönliche Philosophie. Müssen wir aus unserer Knechtschaft ausziehen? Wie geht das? Was bedeutet echte Freiheit?
In den Wochen vor Pessach erlebt ganz Israel die Sklaverei des Großputzes. Der letzte Winkel einer Wohnung muss ans Tageslicht gekehrt werden. „Was ist, wenn eine Maus einen Krümel Chametz (Gesäuertes) in ein Zimmer bringt, das ich bereits geputzt habe, ohne dass ich das merke?“, fragt eine besorgte Zuhörerin den Rabbiner, der als Fachmann für Frühjahrsputz zugeschaltet ist.
„Es geht doch gar nicht um Brotreste, sondern um den Sauerteig in unserem Leben!“, wirft ein säkularer Tel-Avivi ein, der für den religiösen Eifer seiner orthodoxen Landsleute nur Abscheu übrig hat, dessen Leben aber ohne Pessach undenkbar wäre: „Warum gehen die jungen Israelis, die vor dem Festrummel ins Ausland fliehen – also ganz bewusst zu Pessach aus dem verheißenen Land ausziehen! – am Sederabend dann doch ins Beit Chabad, um dort die Haggadah zu lesen?“ Und: „Was ist Chametz in meinem Leben?“
Ohne jeden erkennbaren Anlass fängt ein Radiohörer am Telefon an, laut über „die Vorhaut des Herzens“ nachzudenken, bis er zu dem Schluss kommt: „Wer nicht am Herzen beschnitten ist, kann überhaupt nicht am Fest der Freiheit teilnehmen!“
Ganz selbstverständlich übertragen moderne Juden Jahrtausende alte biblische Traditionen auf ihren Alltag. Dabei bleibt das Gespräch streng auf der zwischenmenschlichen Ebene. Der Gott, der sich das Sklavenvolk erwählt und aus Ägypten geführt hat, wird mit keinem Wort erwähnt.
Sprachlich ist sein Wort aber allgegenwärtig. Was schwäbischen Nichtjuden spanisch erscheint oder Sachsen chinesisch klingt, ist für viele jüdische Israelis das, was für den Fisch das Wasser ist. Würde der Apostel Paulus sich heute im israelischen Rundfunk per Handy zu Wort melden und sagen: „Ihr seid teuer erkauft; werdet nicht der Menschen Knechte“ (1. Korinther 7,23) – moderne Israelis könnten den Faden aufgreifen und engagiert darüber diskutieren.
Archaische Aussagen wie „schafft den alten Sauerteig weg, damit ihr ein neuer Teig seid, wie ihr ja ungesäuert seid“ (1. Korinther 5,7), oder „lasst uns das Fest feiern nicht im alten Sauerteig“ (1. Korinther 5,8), sind im Israel des 21. Jahrhunderts ohne große Erklärungen brandaktuell.
Mit herzlichem Gruß aus Jerusalem,
Ihr Johannes Gerloff