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Die Neujahrsmail meines Freundes geht weiter: „Ich meine Du hättest mal gesagt, dass die Gnade für Deutschland bezüglich des Holocausts irgendwann vorbei sein könnte? Ich habe das so verstanden, dass da vor Gott für unser Land noch etwas offen ist, wovon ich persönlich ausgehe. Hast Du dazu etwas veröffentlicht, beziehungsweise, habe ich das überhaupt richtig in Erinnerung?“
Zuerst einmal finde ich große Klasse, wenn jemand auf mich zukommt, wenn er nicht weiß, ob er etwas richtig verstanden oder überhaupt richtig in Erinnerung hat. So kommen wir weiter im Gespräch und im gegenseitigen Verstehen. Danke für die Rückmeldung! – … gerade auch bei so heiklen Themen wie Gericht und Gnade und dann auch noch im Zusammenhang mit der Schoah des jüdischen Volkes in den 1930er- und 40er-Jahren, die wir gemeinhin als „Holocaust“ bezeichnen.
Ich habe nie davon gesprochen, dass es eine „Gnade [Gottes?] für Deutschland bezüglich des Holocaust“ gäbe. Allerdings habe ich mehrfach von der „Gnade des Holocaust“ im Blick auf mein deutsches Volk gesprochen.
Dieser eigenartige, nicht ungefährliche Begriff ist mir in den Kopf gekommen, vielleicht als Anklang an die Bemerkung unseres Altkanzlers Helmut Kohl über die „Gnade der späten Geburt“. Aber das weiß ich nicht mehr genau. Vielleicht ist diese Verbindung auch eine Frucht davon, dass ich meine Gedanken und Worte reflektiere. Als Kohl diesen Begriff von der „Gnade der späten Geburt“ im Januar 1984 prägte, meinte der damalige israelische Botschafter in Bonn, Ascher Ben Nathan, das habe einen „schlechten Nachgeschmack“ hinterlassen.
Je mehr ich über die „Gnade der späten Geburt“ nachdenke, wie darüber geredet wurde, wie der Ausspruch verstanden oder auch missverstanden wurde, was er zum Ausdruck bringt, desto mehr wird bei mir der schlechte Nachgeschmack zum akuten Bauchweh. Ähnlich geht es mir bei dem Phänomen, das ich mit der Rede von einer „Gnade des Holocaust“ zusammenzupacken suchte.
Ich meinte mit der „Gnade des Holocaust“, dass das Gefühl, der Eindruck, der Schock, und auch die Demütigung, die wir als Deutsche durch den Holocaust erfahren haben, uns in vielfacher Hinsicht zu Aussagen, Handlungsweisen und Einstellungen gegenüber dem jüdischen Volk und seinem Staat Israel veranlasst hat, auf die wir uns ohne dieses schreckliche Geschehen, ohne diese furchtbare Schuld unseres Volkes niemals eingelassen hätten.
Dabei denke ich an deutsche Solidarität mit Juden, wenn antijüdische Gefühle aufflammen, ein besonderes Gefühl der Verpflichtung gegenüber dem jüdischen Staat, und vor allem auch, dass wir – seit der Schoah endlich! – das Gespräch mit unseren jüdischen Nächsten suchen. Zur „Gnade des Holocaust“ gehört, dass Angela Merkel, wenn ich mich nicht irre, die Sicherheit des Staates Israel zur Staatsräson der Bundesrepublik Deutschland erklärt hat. In meinem ureigenen Fachbereich ist der Begriff von einer „Theologie nach dem Holocaust“ Teil dieses Phänomens.
Soweit ich mich erinnern kann, habe ich immer mit einem warnenden Unterton davon gesprochen, dass die „Gnade des Holocaust“ abnimmt, weniger wird. Ich kann mich des Eindrucks nicht erwehren, dass der Schock, den die Konfrontation mit den Gräueltaten, zu denen Deutschland unter nationalsozialistischer Führung fähig war, bei Deutschen auslöst, nicht in der Lage war, der Einstellung gegenüber dem jüdischen Volk eine grundsätzlich neue Richtung zu geben.
Wie ist es sonst möglich, dass Vertreter Deutschlands in der UNO an einem Tisch sitzen mit denen, deren Staatsräson die Vernichtung des Staates Israel ist? Ich kann mir nicht erklären, wie sich die Bundesrepublik Deutschland seit Jahrzehnten im Blick auf Israel auf der internationalen Bühne positioniert, wenn sich unsere Herzenseinstellung als Deutsche gegenüber dem jüdischen Volk wirklich grundlegend verändert haben soll. Dass der Besuch von Israels Minister für Innere Sicherheit auf dem Tempelberg heftig kritisiert wurde, während man gleichzeitig ignorierte, dass im jordanischen Parlament die Juden als Nachfahren von Affen und Schweinen bezeichnet wurden, ist nur ein jüngstes Symptom für eine bedauerliche, um nicht zu sagen fatale Einstellung.
Wir können uns nicht auf die „Gnade des Holocaust“ verlassen. Wir müssen unsere Beziehung zum jüdischen Volk und seinem Staat Israel gesellschaftlich, politisch, diplomatisch auf eine andere Basis stellen, als die Schuldgefühle oder den Versuch einer Vergangenheitsbewältigung. Deshalb möchte ich mich auch nicht mit einer „Theologie nach dem Holocaust“ identifizieren, sondern bemühe mich um eine Theologie, die eine Sichtweise ermöglicht, eine Atmosphäre schafft, eine Denkweise prägt, in der eine Schoah niemals möglich gewesen wäre.
Wir sollten nie vergessen: Die Aufforderung „Tröstet, tröstet mein Volk, spricht euer Gott“ (Jesaja 40,1) erging bereits ein halbes Jahrtausend vor Gründung der Kirche an nichtjüdische Gläubige, die den Gott Israels als ihren Gott bezeichnen. Erst in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts nach Christus haben einige, relativ wenige Christen begonnen, diese Worte als ihren Auftrag am jüdischen Volk zu begreifen.
Die Frage nach einem Gericht Gottes über Deutschland, habe ich jetzt völlig ausgeklammert. Darauf muss ich dann wohl in einem weiteren Artikel eingehen.