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Liebe Leser,
während des hebräischen Monats Elul – in diesem Jahr war das die Zeit vom 16. August bis zum 13. September – hört man am frühen Morgen aus den Synagogen den Schall des Widderhorns. Höhepunkt ist Rosch HaSchanah, der jüdische Neujahrstag, der biblische „Tag des Posaunenblasens“. Am 14. September hat dieses Fest das hebräische Jahr 5776 eingeläutet – oder besser „hinaustrompetet“. Schließlich erklingt der Schofar an den zehn „Ehrfurcht gebietenden“, „Furcht erregenden“ Tagen, die nach Rosch HaSchanah zum Jom Kippur, dem großen Versöhnungstag, hinführen.
Der urwüchsige, ungehobelte, kaum melodische Klang des Widderhorns hat etwas Schauderhaftes, Beängstigendes, Aufwühlendes. Er ruft zur Umkehr, zum Kampf, zur Begegnung mit dem lebendigen Gott, in die Verantwortung und Freiheit, zum Gericht. Er verkündet – so die jüdische Tradition – die Rückkehr des Königs, weckt auf, die geistlich eingeschlafen sind. Der Schofar erinnert daran, wie einst am Sinai, dass Gott etwas zu sagen hat. Sein Schall ist ein Schrei des Schmerzes über die Zerstörung des Heiligtums in Jerusalem und der Sehnsucht nach dem Erlöser.
Der Schofar erinnert daran, wie Abraham auf Gottes Geheiß seinen geliebten Sohn Isaak auf dem Altar gebunden hat – um dann erfahren zu dürfen, dass Gott den Widder schon vorbereitet hatte. Die jüdische Tradition stellt eine besondere Verbindung her zwischen dieser Geschichte, die im 22. Kapitel des ersten Buches Mose überliefert wird, und dem jüdischen Neujahr, dem Fest des Schofarblasens. Der Schall des Widderhorns sammelt das jüdische Volk in sein Land, verkündigt das Kommen des Messias und erinnert daran, dass Gott diese von Kriegen, Leid, Schmerzen und Tränen zerrissene Welt erneuern wird.
Der Schofar befreit unseren Blick von den Problemen des täglichen Lebens hin auf die Perspektive, die der Schöpfer dieser Welt hat. Alles, was wir heute erleben, was uns Angst macht und verwirrt, ist kein Zufall. Das ist die Botschaft des Schofar. Das Leben auf dieser Erde mit seinen Herausforderungen und Unsicherheiten, Umwälzungen und Katastrophen sind Herausforderungen, vor die Gott uns stellt – genauso wie einst Abraham. Die kargen, holzschnittartigen Sätze der biblischen Erzählung berichten nichts über die inneren Kämpfe, die Gottes Gebot in Abraham und seiner Familie ausgelöst haben mag. Einmal fragt Isaak nach dem Opfertier, akzeptiert dann aber gleich die einsilbige Antwort des Vaters. „Und beide gehen miteinander weiter“, betont der Text zweimal (1. Mose 22,6+8), demütig, gehorsam, darauf vertrauend, dass Gott alles in der Hand hat. Isaak trägt das Brennholz, „wie einer, der sein eigenes Kreuz auf der Schulter hat“ – bemerkt der mittelalterliche Midrasch Jalkut Schimoni.
Der Prophet Amos (9,7) weiß, dass Gott nicht nur Israel in das umstrittene Land in der Levante gebracht hat, sondern auch die Philister, die den Israeliten so viele Probleme bereitet haben, und die Aramäer, den Feind im Nordosten. Völkerwanderungen sind nichts Neues, eher normal und, nach Aussage der Heiligen Schrift, von Gott verursacht und geleitet. Die Frage ist nicht, ob wir das verstehen oder gut finden. Entscheidend ist, wie wir die Prüfungen bestehen, die uns der Vater im Himmel stellt.
Herzlich grüßt Sie aus Jerusalem,
Ihr Johannes Gerloff