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Die Leitfrage, die uns im Folgenden begleitet ist: Lesen wir die Bibel von Rechts nach Links, oder von Links nach Rechts? Lesen wir die Heilige Schrift von vorne nach hinten – wie man eigentlich jeden Spielfilm ansieht – oder von hinten nach vorne? Oder, noch einmal anders, vielleicht eindeutiger formuliert: Lesen wird das Neue Testament auf dem Hintergrund des Alten Testaments?, in der Reihenfolge, wie Gott Seine Gedanken einen nach dem anderen offenbart und damit die hermeneutischen Weichen gestellt hat – oder meinen wir das Alte Testament durch die Augen des Neuen Testaments verstehen zu müssen?, wobei dann meist unerklärt bleibt, woher man eigentlich das Neue Testament verstehen will.
Der die Generationen von Anfang her ruft
In der Botschaft des Propheten Jesaja (41,4) ist grundlegend, dass der Herr, der Gott Israels, „der Erste und bei den Letzen“ immer noch derselbe ist. Jesaja betont, dass der Herr der „קֹרֵא הַדֹּרֹות מֵרֹאשׁ/Kore‘ HaDorot MeRosch“ ist, derjenige, der „die Generationen vom Anfang her ruft“. Das heißt, Er hat von Anfang an genau gewusst, was Er tat. Und Er setzt seinen Plan in die Tat um, bis Er sein Ziel erreicht – Schritt für Schritt so, wie Er es von Anfang an vor Augen hatte.
Deshalb fordert Jesaja (46,9-10) seine Leser auf: „Erinnert euch an die Anfänge von Urzeiten, denn ich bin Gott. Es gibt nicht noch einen Gott. Keiner ist mir gleich. Ich erkläre vom Anfang her das Ende, von alters her [lege ich fest], was noch nicht gemacht wurde. Ich sage [voraus]. Mein Ratschluss steht. Alles, was mir gefällt, werde ich tun.“ Nicht übernatürliche Hellseherei oder geheimnisvolle Wahrsagerei erschließen uns die Zukunft. Nur wer die Anfänge versteht, die das biblische Wort offenbart, hat einen Blick dafür, worauf die Weltgeschichte hinauslaufen wird.
Mit großer Gewissheit kann der Psalmbeter Asaph behaupten: „Ich erschließe Rätsel aus dem Uralten“ (Psalm 78,2b). Und die Frage nach dem, was auf uns zukommen wird, beantwortet der Prophet Jesaja (41,22) folgerichtig mit der Aufforderung: „Verkündigt es doch, was früher geweissagt wurde damit wir darauf achten! Oder lasst uns hören, was kommen wird, damit wir merken, dass es eintrifft!“
Wer die „Endzeit“ verstehen will, muss wissen, was in der Schöpfungsgeschichte berichtet wird. Wer wissen will, worauf alles hinausläuft, muss verstehen, was der Schöpfer sich am Anfang gedacht hat. Der eine, wahre, lebendige Gott hat den Raum, in dem wir leben, und auch die Zeit, die wir durchleben, geschaffen. Er hält alles in Seiner Hand. Und Er wird das Ziel, das Er sich gesetzt hat, unter allen nur vorstellbaren Umständen und auf jeden Fall erreichen. Das ist die Botschaft der Bibel.
Islamisches Denken
Dem entgegengesetzt gibt es eine Denkweise, die vorauszusetzen scheint, dass auch Gott dem Diktat der Zeit unterworfen ist. Wenn irgendein Geschöpf sich gegen ihn entscheidet, sich anders verhält oder entwickelt, als er sich das ursprünglich vorgestellt hatte, muss er darauf korrigierend reagieren; einen Ausweg finden; eine Alternative aufzeigen; sich etwas Neues einfallen lassen.
Allah, der Gott des Islam, ist offensichtlich dem Diktat der Zeit unterworfen. Deshalb muss er sich, so das Denken des Islam, immer wieder korrigieren. Wenn sich eine Willenserklärung aufgrund irgendwelcher Umstände als nicht durchsetzbar erweist hat, wird sie durch eine neue Offenbarung ersetzt. Da der Koran nicht in chronologischer Ordnung aufgeschrieben ist, mühen sich klassische Koranausleger darum, festzustellen, welche Aussagen älter und welche jünger sind. Darüber wird diskutiert und daraus ziehen sie dann Schlüsse im Blick auf ihre Gültigkeit.
In der Fachsprache der Korangelehrten ist davon die Rede, dass die zeitlich jüngere Offenbarung eine ältere Offenbarung zum selben Thema „abrogiert“. Sie nennen dieses Auslegungsprinzip auf Arabisch نسخ/Naskh, was so viel wie „Aufhebung“, „Ersatz“, „Ablösung“, oder eben „Abrogation“ bedeutet.
Die Gebetsrichtung – der Koran abrogiert eine biblische Anweisung
Ein klassisches Beispiel für die Abrogation einer biblischen Anordnung durch die السنة/Sunna (Überlieferung) des Koran ist die Änderung der قِبْلَة/Qibla (Ausrichtung) im Gebet von Jerusalem nach Mekka (Sure 2,142-150). Während Juden – und möglicherweise alle bibelgläubigen Menschen – in Richtung Jerusalem, den Tempelberg und das Allerheiligste beten sollten[1], beten Muslime in Richtung Mekka.
Jeder aufmerksame Zeitgenosse kann beobachten, wenn in Jerusalem auf der Südhälfte des Tempelbergs – auf dem Haram Asch-Scherif – vor der Al-Aqsa-Moschee Hunderttausende von Muslimen ihren „Allerwertesten“ in Richtung auf den Ort ausrichten, der in biblischer Tradition als die Stätte gesehen wird, die der Gott Israels sich auserwählt hat und deshalb als Allerheiligstes bezeichnet wurde.
Nicht nur jedem Orientalen sollte die Eindeutigkeit dieser Körpersprache verständlich sein. Muslime tun das auf ausdrücklichen Befehl ihres Propheten und bringen damit – vor den Augen aller Welt! – unmissverständlich zum Ausdruck, was sie über Jerusalem und den Tempelberg denken. Die Ausrichtung im Gebet auf Jerusalem ist im Koran zugunsten Mekkas abrogiert.
Der Schwertvers – eine Abrogation innerhalb des Koran
Der so genannte „Schwertvers“ in Sure 9,5 verkündet: „Und wenn nun die heiligen Monate abgelaufen sind, dann tötet die Heiden [die Götzendiener], wo (immer) ihr sie findet, greift sie, umzingelt sie und lauert ihnen überall auf! Wenn sie sich aber bekehren, das Gebet verrichten und die Almosensteuer geben, dann lasst sie ihres Weges ziehen! Allah ist barmherzig und bereit zu vergeben.“[2]
Viele Koranausleger vertreten die Ansicht, dass dieser Vers mehr als 120 Verse ablöst, das heißt, für ungültig erklärt, die zu Frieden und Koexistenz zwischen Muslimen und Andersgläubigen aufrufen. Über diese Tatsache muss sich jeder im Klaren sein, der den Islam als friedliebende und tolerante Religion darstellen möchte, und als Beleg dafür eine koranische Aussage heranzieht, die eindeutig älter ist, als der Schwertvers.
Zweifellos hat Mohammed in der Frühzeit eine ganze Reihe versöhnlicher Aussagen über seine andersgläubigen Zeitgenossen gemacht – solange er die Hoffnung hegte, Juden und Christen würden ihn als wahren Propheten anerkennen; solange er schwach und in der Minderheit war; solange sein militärischer Erfolg ungewiss war. Später hat sich seine Einstellung und Verhaltensweise gegenüber andersgläubigen Monotheisten dann allerdings radikal geändert. Und auch in diesem Fall ist das Auslegungsprinzip der Naskh für das Denken strenggläubiger Muslime bis zum heutigen Tag entscheidend.
Eine Ersetzungstheorie …
Die Vorstellung der Naskh (= Aufhebung, Ersatz, Ablösung, Abrogation) gilt für Einzelaussagen, aber auch für gesamte Offenbarungskomplexe. So löst in islamischem Denken der Koran, die Offenbarung an den Propheten Mohammed, das Neue Testament, die Heilige Schrift der Christen ab.
Zuvor hatte das Neue Testament die Heilige Schrift der Juden, das zuweilen so genannte Alte Testament, abrogiert. Folgerichtig haben Christen Juden als Volk Gottes ersetzt – wie dann auch nach islamischer Vorstellung die أمة/Umma (Gemeinschaft, Nation) der Muslime die Kirche der Christen als Verwalter der göttlichen Offenbarung und Heilskörperschaft ablöst.
Wenn aus islamischer Sicht das Handeln von Menschen letztendlich entscheidend ist, entbehrt diese Sicht der Dinge weder eine Bezug zu den Heiligen Schriften, noch eine Realitätsnähe. Sowohl Altes, als auch Neues Testament bezeugen, dass das jüdische Volk im Blick auf seinen göttlichen Auftrag versagt, wenn nicht gar dagegen rebelliert hat.
Und auch die christliche Gemeinde gab in den vergangenen zweitausend Jahren im Licht biblischer Aussagen betrachtet kein wirklich gutes Bild ab. Dass ein Gott im Blick auf Judentum und Christentum zu dem Urteil kommen könnte, dass ihnen „das Reich Gottes genommen und einem Volk gegeben werden [sollte], das seine Früchte bringt“ (Matthäus 21,43), ist kaum von der Hand zu weisen.
… und ihre Folgen für das Gottesbild
Folgerichtig bis zu Ende gedacht, bedeutet das allerdings, dass so ein Gott, der sich ständig durch neue Offenbarungen korrigieren muss, nicht wirklich „Gott“ ist. Vielmehr behält das Verhalten seiner missratenen(?!) Geschöpfe und vor allem die Zeit das letzte Wort.[3] Ein „Gott der Abrogationen“ muss sich immer wieder korrigieren, weil er ursprünglich manches nicht richtig bedacht oder gar falsch gesehen hatte.
Dem hält der Gott des Propheten Jesaja – wie eingangs erwähnt – unermüdlich entgegen: „Ich bin tatsächlich und in jeder Hinsicht Gott!“ Jesajas grundlegende Überzeugung ist: „Das Wort unseres Gottes besteht in Ewigkeit“ (Jesaja 40,8) und wird weder durch menschliches Verhalten, noch durch irgendwelche Ereignisse verändert.
Die Sicht des Neuen Testaments
Auf dieser Grundlage kann der Apostel Paulus behaupten: „Ich sage nichts anderes, als was die Propheten und Mose gesagt haben“ (Apostelgeschichte 26,22). Er stellt unmissverständlich klar, dass „ein Bund, der zuvor von dem einen, wahren, lebendigen Gott rechtskräftig bestätigt wurde, von einem Gesetz, das 430 Jahre später gegeben wird, nicht abgeschafft“ wird, „sodass die Verheißung außer Kraft gesetzt würde“ (Galater 3,17).
Auch Jesus hatte vor Paulus nicht etwa alte Offenbarungen korrigiert, sondern seine Zuhörer und Jünger zum ursprünglichen Willen Gottes zurückgeführt. Das ist zum Beispiel sichtbar, wenn er auf die Frage der Pharisäer nach der von Mose erlaubten Ehescheidung mit der Frage antwortet (Matthäus 19,3-8): „Habt ihr nicht gelesen, dass der Schöpfer von Anfang an“ im Sinn hatte? Jesus argumentiert vom Schöpfungsbericht[4] her, um den ursprünglichen Willen Gottes aufzuzeigen. Mose ist – so die Argumentation von Jesus – dem Volk Israel mit seiner Gesetzgebung um ihrer „Herzenshärte willen“ entgegen gekommen. „Aber von Anfang an war das nicht so [gedacht] gewesen.“
Gottes ursprüngliche Intention …
Offensichtlich müssen wir beim Bibellesen unterscheiden lernen, wo der Schöpfer den Menschen in seiner Gnade und Barmherzigkeit entgegenkommt, sie gewissermaßen „abholt“ – und was Gottes eigene Initiative, Sein eigener Gedanke und ursprünglicher Wille ist.
Ehescheidung und Polygamie sind nach dem Zeugnis der Heiligen Schrift genauso Zugeständnisse Gottes an eine rebellierende Menschheit, wie Fleischgenuss oder das Darbringen von Opfern. So kann der ehemalige Oberrabbiner von Großbritannien, Joseph Herman Hertz, feststellen: „Nirgends in der Heiligen Schrift wird die Bedeutung des Opferrituals formell erklärt; es wird als selbstverständlich und jedermann vertraut behandelt… Das Opfer war also eine uralte Sitte in Israel, und wurde als ebenso alt wie die Menschheit betrachtet.“[5] Wenn Gott die Opfer von Menschen akzeptiert, dann ist das also eine Initiative, ein Bedürfnis von Menschen, das Gott in Bahnen lenkt und dem Er liebevoll entgegenkommt.
… und Sein Entgegenkommen
Ebenso sind das Amt eines König[6], der Bau eines Heiligtums – von der Stiftshütte in der Wüste bis hin zum Tempel in Jerusalem[7] – und sogar die Idee von einem Mittler[8] Re-Aktionen des Vaters im Himmel auf das Wesen, die Vorstellungsmöglichkeiten und Wünsche von Menschen.
Gottes Bundesschlüsse mit Noah, Abraham, Moses und David dagegen sind ureigene Initiativen Gottes. Er erwählt Abraham und seine Nachkommen, das Volk Israel, um alle Familien des Erdbodens zu segnen. Er führt ihn in ein Land, erwählt einen Ort, an dem Er sich offenbaren will.
Neutestamentlich gedacht …
Der Hebräerbrief spricht – wie keine andere Schrift des Neuen Testaments – von einem „neuen Bund“, der „den ersten [Bund] zu einem alten“ macht. „Was aber veraltet ist und sich überlebt hat, das wird bald verschwinden“ (Hebräer 8,13).
Was macht dann der Schreiber des Hebräerbriefes, wenn er zeigen will, dass Jesus ein anderes, wirksameres Priestertum vertritt, als das levitische Priestertum? – Er geht zurück(!) auf Melchisedek[9], der als Erster überhaupt in der Geschichte der Menschheit als „Priester Gottes des Höchsten“ (1. Mose 14,18) bezeichnet wird. An Melchisedek können wir sehen, wie dieser Begriff definiert wird.
Somit ist auch in diesem Fall das „Neue“ im „Neuen Testament“ nicht etwa ein Naskh (= Aufhebung, Ersatz, Ablösung, Abrogation), sondern ein Zurückgehen, auf das Ursprüngliche der Offenbarung Gottes.
… nicht Aufhebung, sondern bestätigende Erfüllung
Grundsätzlich erklärt der Messias Jeschua (Matthäus 5,17-20): „Denkt nicht, ich sei gekommen, die Thora und die Propheten aufzulösen. Ich bin nicht gekommen, aufzulösen, sondern zu erfüllen. Amen, ich sage euch: Bis Himmel und Erde vergehen wird weder ein Jota noch ein ‚Hörnchen‘ von der Thora vergehen bis alles eintrifft. Wer nun eine dieser geringsten Anordnungen auflöst und lehrt das die Menschen, wird Geringster heißen im Königreich der Himmel. Wer sie aber tut und lehrt, der wird groß heißen im Königreich der Himmel. Ich sage euch nämlich: Wenn eure Gerechtigkeit nicht weit übertrifft die der Schriftgelehrten und Pharisäer werdet ihr nicht eingehen in das Königreich der Himmel.“
Der ehemalige Berliner Theologieprofessor Friedrich Wilhelm Marquardt zeigt die Folgen dieses islamischen Gedankengutes auf, wenn er schreibt: „Diese arabische Geisteswelt hat bei uns heute viele Sympathisanten, gerade auch unter Christen und Theologen. Paulus wird bei uns fast durchgehend so koranisch gelesen wie bei arabischen Christen, mit ganz ähnlichen Überzeugungen für die politischen Konsequenzen, was Israel betrifft. Konservative protestantische Theologie und linker politischer Antizionismus spielen in dieser Frage einander in die Hände.“[10]
Fußnoten:
[1] Vergleiche 1. Könige 8,41-43 und den Babylonischen Talmud, Traktat Berachot 30a.
[2] Rudi Paret, Der Koran (Stuttgart, Berlin, Köln, Mainz: Verlag W. Kohlhammer, 3. Auflage, 1983), 132.
[3] Vergleiche dazu den vorhergehenden Artikel in dieser Serie über die Hermeneutik „Wer ist Gott“: https://gerloff.co.il/gott/.
[4] 1. Mose 1,27 und 2,24.
[5] Joseph Herman Hertz, Pentateuch und Haftoroth. Hebräischer Text und deutsche Übersetzung mit Kommentar, Band 3: Leviticus (Zürich: Verlag Morascha, 1984), 5.
[6] Vergleiche 5. Mose 17,14-19; 1. Samuel 8.
[7] Siehe dazu besonders auch Jesaja 66,1.
[8] Siehe zum Beispiel 5. Mose 18,15-18 und beachte die Begründung.
[9] Hebräer 5,6.10; 6,20-7,28.
[10] Friedrich-Wilhelm Marquardt, Die Juden und ihr Land (Hamburg: Siebenstern Taschenbuch Verlag, 1975), 151.