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„Das Zentrum der Welt ist Israel. Das Zentrum Israels ist Jerusalem. Das Zentrum von Jerusalem ist Mea Schearim…“ Der schwarz gekleidete Ultraorthodoxe sieht mich prüfend an, ob ich folge, und fährt fort: „…und das Zentrum von Mea Schearim, das sind die ‚Stüblach’. So denken diese Kinder hier. Das musst Du wissen, wenn Du die Leute hier verstehen willst.“ Laut schreiend stürmt eine Schar von 13-, 14-jährigen Jungs an uns vorüber. Sie schleppen laut polternd ein paar Türrahmen hinter sich her. Die weiteren Erklärungen gehen im Lärm unter.

Alle im ultraorthodoxen Jerusalemer Viertel Mea Schearim sind schwarz gekleidet, genau wie die Juden im Osteuropa des 18. und 19. Jahrhunderts. Nissim, so heißt mein Gesprächspartner, ist nicht in dieser Welt aufgewachsen. Wie sein Freund Elasar ist er hierher gekommen, um im „Beit Midrasch“ – im Lehrhaus – des Brezlaver Rebben zu studieren. Eigentlich wird hier nur Jiddisch gesprochen. Und „Stüblach“ nennt man in dieser altdeutschen Sprache die unzählbaren Minisynagogen, in denen sich die Frommen Tag und Nacht in ihre Studien vertiefen. „Mea Schearim“ heißt eigentlich „Hundert Tore“ – aber die sind zur Außenwelt geschlossen. Mea Schearim ist eine Welt für sich – zu der Papst Benedikt keinerlei Zutritt hat, auch wenn er nur wenige Hundert Meter entfernt die Heilige Stadt besucht.

Nissim und Elasar sind die ersten, die mir auf die Frage: „Was denken Sie zum Papstbesuch?“ zu antworten bereit sind. Kurz zuvor stand ich vor einer der Plakatwände, die den Einwohnern von Mea Schearim als Zeitung dienen. Radio und Fernsehen sind verpönt – als potentielle Einfallstore säkularer Dekadenz. Ein alter Rabbiner mit langem, weißem Bart verinnerlicht die Anweisung, die Busgesellschaft Egged zu meiden, falls diese nicht bereit ist, nach Geschlechtern getrennte Buslinien anzubieten. Auch die mittelalterlich anmutende Gesellschaft von Mea Schearim weiß Meinung zu machen und wirtschaftlich Druck auszuüben. Auf meine Frage nach dem Papstbesuch macht er eine wegwerfende Handbewegung und lässt mich dann mit hoher Fistelstimme wissen: „Was? – Was gibt’s?? – Wer ist das??? – Niemand! Nichts!!“ Dabei sieht er mich noch nicht einmal an.

Einer seiner Glaubensgenossen hatte mich kurz zuvor verständnislos angeglotzt: „Papst? Was ist das?!?“ Nachdem ich ihm erklärt hatte, dass Herr Ratzinger ein doch recht bedeutender Vertreter der Christenheit sei, meinte er nur trocken: „Ich habe keine Zeit, mir darüber Gedanken zu machen.“ Sein Begleiter mischt sich ein. Der 20-jährige Israel spricht zwar nur Jiddisch und Englisch, kommt aber „wie alle rechten Juden aus Brooklyn“ und hat deshalb einen weiten Horizont. „Very good!“, kommentiert er den Besuch des „heiligen Vaters“: „Der hat sich entschieden, zu bereuen, was der Christus im Holocaust getan hat [sic!]. Dagegen protestiert er. Deswegen kommt er doch, oder?!“

Avraham Stern ist 1951 aus Rumänien nach Israel eingewandert. Er hat ebenfalls keine Zeit, sich über den Papstbesuch Gedanken zu machen. Gelangweilt starrt er in das Gewühl von Autos und Menschen. Etwas ratlos stehe ich daneben und überlege, wie ich ihm wohl noch einen Kommentar entlocken könnte. Es ist schwer, den Leuten eine Meinung aus der Nase zu ziehen, wenn sie keine haben. Da sieht mich der 70-Jährige unvermittelt direkt an: „Ja, bringt der dann wenigstens Geld mit? Baruch HaBa’ – soll er halt kommen. Ich habe nichts dagegen. Mich stört er nicht.“

Um die Ecke sitzt Mustafa unter einem einsturzgefährdeten Wellblechdach und verkauft Obst und Gemüse – seit 40 Jahren! Mustafa ist 45 Jahre alt und wohnt in der arabischen Altstadt von Jerusalem. Auf meine Frage nach dem Papst tut er geschäftig: „Ich weiß einen, der weiß alles!“ „Ich will aber wissen, was Du denkst“, hake ich nach. „Ich habe keine Ahnung“, erklärt der Araber, nippt an einem heißen Tee im Plastikbecher, der gefährliche Beulen aufweist, und schreit: „Uuuusi!“ – „Nein“, wende ich energisch ein, „mich interessiert Deine Meinung!“ – „Sieben Schekel siebzig“, antwortet er einer ultraorthodoxen Frau, die ihm einen Plastikbeutel voller Gemüse hinhält.

„Wer ist das, der Papst?!“ murmelt er dann wieder in meine Richtung. „Der kommt… und der geht auch wieder…“ Ich lasse nicht locker. „Der kommt nur wegen der Politik…“ Mustafa druckst herum. „Ja’ani, Ke’ilu…“ mischt er arabische und hebräische Verlegenheitsfüllwörter. „Ich habe keine Ahnung – aber stell Dir vor, was das alles kostet: 80.000 Polizisten sollen auf ihn aufpassen! Wenn das keine Geldverschwendung ist, was dann?! – Fünf Schekel vierzig“, lässt Mustafa die Ultraorthodoxe wissen. Mich und meine Frage nach dem Papst ignoriert sie vollkommen, wie sich das für eine züchtige Frau aus Mea Schearim gehört. Es ist überhaupt eine Frechheit, dass ich sie angesprochen habe.

„Ich denke nichts über den Papstbesuch“, antwortet der 25-jährige Nissim trotzig: „Muss ich darüber nachdenken?!??“ – Während ich mich frage, warum Juden immer mit einer Gegenfrage antworten müssen, erklärt sein Freund Elasar: „Ich habe gehört, dass sie für den Papst die ‚Kotel’ – so nennen Juden die ‚Klagemauer’ – schließen werden. Stell Dir vor, zwölf Stunden lang dürfen wir dort nicht beten! Würden die etwa den Vatikan für zwölf Stunden schließen, wenn unser Oberrabbiner nach Italien kommt?!“

Diese Leute gehen jedem Ausländer und vor allem Christen möglichst aus dem Wege. Um mit ihnen überhaupt ins Gespräch zu kommen, habe ich mir eine Jarmulke auf den Kopf gesetzt. Jetzt erfährt Elasar, dass ich aus Deutschland komme. Er kommt ins Schwärmen: „Letztes Jahr war ich in Michelstadt, im Odenwald, und habe dort das Grab des Baal Schem von Michelstadt besucht, eine ganze Nacht lang. Und dann waren wir in Warmersa (so nennt man die Stadt Worms am Rhein auf Jiddisch) im Beit Midrasch von Raschi.“ Offensichtlich haben die Juden von Mea Schearim auch in Europa eine Welt, die den dort Einheimischen kaum bekannt ist.

Sein Freund Nissim kommt aufs Thema zurück: „Eine Sache, die Freude bringt, ist der Benedikt jedenfalls nicht gerade. Aber ich habe einen Vater da oben“, der schwarz gekleidete Jüngling weist mit dem Zeigefinger gen Himmel, „der dirigiert alle Dinge. Der Papst interessiert mich nicht. Soll er doch tun, was er will. Und überhaupt war Johannes Paul besser.“ – „Warum?“, will sein Freund wissen. „Weil er kein Holocaustleugner war!“ – „Aber er hat doch gesagt, dass es ihm Leid tut“, wagt Elasar einzuwenden. „Das ist doch alles Bluff. Der hat Durban II in Genf unterstützt, verstehst Du?! – Aber das interessiert mich überhaupt nicht“, wendet er sich demonstrativ ab: „Ich lerne Gemarah (Talmud).“

„Weißt Du, dass die Geräte vom Tempel im Keller des Vatikan sind“, findet Elasar dann aber doch noch etwas, was diese Leute in ihrer Welt an der Welt des Katholizismus interessiert. Meinen ungläubig verwirrten Blick beantwortet der ultraorthodoxe Talmudschüler: „Der Rav Lau hat das gesagt.“ „Die sagen nicht einfach nur so Dinge, die wissen schon, was Sache ist“, bestätigt Nissim seinen Freund und ihre Rabbiner, „und außerdem sieht man das auf dem Bogen in Rom, wie die Römer die Menorah (den siebenarmigen Leuchter) dorthin gebracht haben.“ Eine weitere Horde von Buben, die laut schreiend allerlei Holzreste an uns vorbei schleppen, bereitet unserem Gespräch ein abruptes Ende.

Ein paar Gassen weiter sitzt Israel (ein anderer, nicht aus Brooklyn, mit demselben Namen) in seinem schmuddeligen, verstaubten Schreibwarengeschäft. Bei Israel gibt es alles, was der (jüdische) Mensch zum Schreiben und Lesen und Beten braucht. „Das ist alles ‚Schmackes’ hier“, kommentiert der 50-Jährige was er feilbietet. In der Hand hält er ein abgegriffenes, vergilbtes Gebetbuch.

„Wann wird das sein?“, beantwortet er meine Frage nach dem Papstbesuch mit einer Gegenfrage. „Nächste Woche“, gebe ich pflichtbewusst Auskunft. „Wann nächste Woche?“, will er ganz genau wissen. „Nun, Montag, Dienstag, Mittwoch…“ „Da bin ich auf dem Meron …“, unterbricht er mich gelassen, „dort wird der Papst wohl nicht hinkommen.“ Hunderttausende orthodoxer Juden versammeln sich zu „Lag BaOmer“, dem 33. Tag der Omer-Zählung, auf dem Berg Meron in Galiläa und gedenken des Todestages von Rabbi Schimon Bar Jochai.

Die Omer-Zählung beginnt mit dem Passahfest und endet am 50. Tag (griechisch „pentekosta“) mit dem Wochenfest, „Schavuot“, das Christen als Pfingsten feiern (vergleiche 3. Mose 23,9‑16). Rabbi Schimon Bar Jochai wird die Verfassung des Sohar-Buches zugeschrieben, das für die jüdische Kabbala-Lehre grundlegend ist. Aber eigentlich feiern Juden Lag BaOmer als ein Freudenfest der Gelehrten. Der talmudischen Tradition zufolge waren 24.000 Schüler des Rabbi Akiva (2. Jahrhundert nach Christus) an einer Seuche gestorben, weil sie einander nicht die rechte Ehre entgegengebracht hatten. Am 33. Tag der Omer-Zählung hörte die Seuche auf zu wüten. Deshalb dürfen orthodoxe Juden sich nach dem 33. Omer wieder rasieren, man darf wieder heiraten und andere Freudenfeste feiern – was vorher untersagt ist.

„Was soll der Papst Gutes bringen für Israel?“, greift Israel, der Schreibwarenhändler mit dem Gebetbuch in der Hand, den Gesprächsfaden wieder auf. „Du weißt doch, wie die Christen sind, was sie uns die ganzen Jahre über angetan haben, all die Gewalt, die Lüge und der Betrug. Dafür steht der Papst. So ist sein Wesen. Was haben wir mit den Christen zu tun? Was machen seine Leute hier in Israel das ganze Jahr über?? Ich weiß es nicht! Ich habe keinen Kontakt mit ihnen, weiß nicht, wer oder was sie sind.“ Es scheint nicht zufällig, dass der hebräische Begriff „nozrim“ („Nazarener“), den er dabei als Bezeichnung für die „Christen“ verwendet, dem Begriff „nazim“ („Nazis“) sehr ähnlich ist.

Prüfend sieht er mir in die Augen. „Ich bin kein Jude“, gestehe ich. „Ja, ja“, fällt er mir da ins Wort: „Es gibt auch Nichtjuden, die in der Zeit des Holocaust, zum Beispiel, gut zu den Juden waren. Du weißt, es gibt die ‚Gerechte der Völker’…“ Wir reden noch einige Zeit über das, was die Geschichte dieser Menschen in christlichen Ländern geprägt hat: Pogrome, Vertreibung, Verfolgung, Mord und Erniedrigung. „Ich hoffe, Du bist nicht verletzt?“, meint er zum Abschied. Nein, bin ich nicht – ich wollte ja wissen, was diese Menschen bewegt.

An den Wänden der Steinmauern von Mea Schearim ist in leuchtenden Farben zu lesen: „Raus mit den Zionisten und ihren Kollaborateuren!“ Und: „Zionisten sind keine Juden – Juden sind keine Zionisten!“ Da spricht mich Elijahu an, ein bärtiger Schwarzer: „Alle Probleme des Volkes Israel kommen daher, weil wir nicht auf die Weisen und Großen der Tora hören. Deshalb müssen auch die Heiden leiden.“ Ich habe meine Frage nach dem Papstbesuch vergessen und höre, was diesen Mann bewegt: „Sieh zum Beispiel den Holocaust. Das Volk Israel hat viel gelitten. Aber die Heiden haben viel, viel mehr gelitten. Nur redet man darüber nicht. Die Gottlosigkeit des jüdischen Volkes ist schuld am Elend dieser Welt. Erst wenn wir den Schöpfer der Welt anerkennen, wird sich etwas ändern.“

Elijahu gehört zu den Neturei Karta, einer Gruppe von ultraorthodoxen Juden, die den Staat Israel in seiner heutigen Form ablehnt. „Wir sind die wahren Zionisten“, betont er. „Wozu wurde das Land Israel dem Volk Israel gegeben? Der Heilige, gelobt sei Er, wollte, dass wir hier in der Tora und in den Geboten leben. Wenn wir nicht auf dem Weg der Tora leben, haben wir hier nichts zu suchen. Hier ist das Heilige Land, das Haus Gottes.“ Den säkularen Zionisten wirft er vor, das Heilige Land geraubt zu haben. Aber auch seine eigenen Eltern sind 1951 in Israel eingewandert, „weil die Araber im Irak sie hinausgeworfen haben. Sie hatten keine andere Wahl, als hierher zu kommen.“

Während der Staat Israel Millionen in den Papstbesuch investiert, bereitet sich Mea Schearim auf Lag BaOmer vor. An den Plakatwänden werden die logistischen Details verkündet. Viele fahren nach Galiläa – die meisten bleiben zuhause und zünden am Abend des 11. Mai 2009, am Vorabend des 33. Tages der Omer-Zählung, die traditionellen Feuer an. Dann ist das orthodoxe Jerusalem – und weite Teile des Landes Israel überhaupt – vom Qualm der Lagerfeuer durchzogen, für die die Kinder schon wochenlang vorher alles Holz (und was sie sonst noch für brennbar halten) sammeln, das nicht niet- und nagelfest ist. Neben mir öffnet sich eine Tür. Ein Schreiner wirft ein paar Bretter auf die Straße. Aus allen Richtungen stürzen sich die schwarz-weißen Buben auf das Holz und balgen sich darum. Woher die Lagerfeuertradition wirklich stammt, weiß niemand genau. Aber sie macht Spaß! Vielmehr Spaß, als über den Besuch des alten Mannes aus Rom nachzudenken.

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By Published On: Mai 10, 200910,4 min read

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